(Yudo Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner)
Manche
Interpreten des Mittleren Weges, MMK, untersuchen hauptsächlich Dinge und materielle Sachen, z. B. deren
Merkmale und ihre Abhängigkeiten oder sie diskutieren abstrakt mögliche Wirklichkeits-Begriffe Nâgârjûnas. Sie
fragen sich tiefgründig, ob die Dinge aus sich selbst entstanden sind und
lehren uns, dass sie wieder vergehen. Aus der Sicht des Zen-Buddhismus sind
solche Spekulationen wenig sinnvoll wenn nicht trivial, denn die Wirklichkeit
wird nach Dôgen im Hier und Jetzt des Handelns und der Meditation erfahren. Wo
und Wann denn sonst?
Seit einiger
Zeit sind zudem Vergleiche mit der Quantenphysik zu finden, z. B. bei der
Wechselwirkung innerhalb der Materie. Das mag einen gewissen Sinn für den
Begriff der Leerheit haben; aber mir
erscheint es effizienter zu sein, direkt bei Nâgârjûna nachzusehen, denn auf
ihn geht der Begriff der Leerheit zurück, die für westliches Denken ohnehin
schwierig ist und viel Futter für eigenartige Interpretationen bietet. Sie ist
jedenfalls kein Nichts.
Denn es geht u.
E. im Buddhismus um mehr als um Dinge, Materie und abstrakte Philosophien: Es
geht vor Allem um die Menschen und deren Denken,
Fühlen und Handeln, für sich selbst und für andere. Viele von uns leiden
natürlich unter den Abhängigkeiten von
materiellen Dingen und wollen vielleicht unbedingt mehr haben oder festhalten, was sie haben. Aber die wichtigsten Probleme entstehen im Menschen selbst und zwischen ihnen.
Dort setzen u.
E. Buddha und Nâgârjûna an, um uns zu helfen, damit wir unsere
Mitte finden, zur Ruhe kommen und Freiheit oder Erleuchtung erlangen.
Für Gautama Buddha
ist es vorrangig, dass wir uns selbst immer besser verstehen, uns also selbst
„auf die Schliche kommen“ und lernen unsere instinkthaften
unkontrollierten und unbewussten Wünsche, Sehnsüchte und Handlungen zu erkennen
und zu steuern. Wir sollten gerade nicht in eine starke oder sogar totale Abhängigkeit von den bekannten
buddhistischen Giften Gier, Hass und Verblendung geraten. Zur Verblendung
zählen Ideologien, unheilsame Konzepte, Schuld-Zuweisungen, psychisch bedingte
falsche Verknüpfungen von Wirkungen und Ursachen usw..
Der Achtfache Pfad Buddhas ist sehr
praktisch formuliert und umfasst Bereiche des Erkennens und der Sichtweise, des
Handelns, Redens, des rechten Geld-Erwerbs, der Ausdauer und der Achtsamkeit
sich selbst gegenüber sowie nicht zuletzt der Meditation in verschiedenen
Stufen der Vertiefung.
Was kann uns
das MMK Nâgârjûnas nun dazu geben und wie können wir diesen
schwierigen Text verstehen und zum Sprechen bringen?
Damit wird ein
enger Zusammenhang mit Gadamers Hermeneutik zur Entschlüsselung von
wesentlichen Texten erkennbar, seine Aussage trifft genau diesen Punkt:„sich
selbst verstehen“. Wir können und sollten bei der Analyse alter Texte wie des
MMK, die auch heute Relevanz und große Bedeutung haben, genau in einen solchen
Lern- und Veränderungsprozess eintreten, der uns erweitert, ändert und zum „Fließen“
bringt. Es geht also darum, dass
„der alte Text des MMK zu sprechen beginnt und in
Wechselwirkung mit uns selbst eintritt“.
Aber wie kann
sich das ereignen?
Wenn so etwas
gelingt, ergeben sich ganz neue Erweiterungs- und Veränderungs-Prozesse für uns,
die zu mehr Befreiung, Selbständigkeit, Eigensteuerung und damit Glück und
Lebensqualität führen. Genau dies ist nach meinem Verständnis das große Ziel des
Genies Gautama Buddha. Er hat sich nicht allein auf philosophischen Ebenen
bewegt, hat sich nicht in abgehobene intelligente philosophische Diskurse
verliebt, sondern hat auf der Grundlage seiner sehr pragmatischen
Lebensphilosophie und seinem Verständnis des Lebens und der Welt ganz neue Wege entwickelt, die zur
Befreiung und Überwindung von Abhängigkeiten, Ängsten und Hemmnissen führen.
Dass diese von ihm entwickelten Ansätze von höchster Aktualität und Bedeutung für
die Gegenwart sind, muss wohl nicht besonders betont werden, wir können es
jeden Tag beobachten. Die überlieferten Religionen haben im Westen deutlich an
Glaubwürdigkeit und Relevanz eingebüßt, wie die zunehmenden Kirchenaustritte
belegen. Wir haben heute zwar ein hohes Maß an materieller Sicherheit und
medizinischer Versorgung erreicht, aber bei den Aufgaben der Befreiung von
psychischen und sozialen Ängsten, Restriktionen und Verhärtungen, die immer
mehr in den Mittelpunkt gerückt wurden, sind wir noch nicht sehr weit gekommen.
Elisabeth Steinbrückner und ich sind überzeugt, dass uns die „östlichen praktischen
Lebens-Weisheiten“ des Buddhismus große Schätze zu bieten haben. Nun sollten
wir daran gehen, sie mit heutigen Mitteln zu heben und zu nutzen.
Aus dem
Sich-Selbst-Verstehen muss sich dann natürlich das Sich-Selbst-Verändern
entwickeln. Dies ist allerdings nicht
immer selbstverständlich, denn ein vom Körper getrennter Geist allein wird
die tief greifende Veränderung von uns selbst kaum allein bewirken können. Es
ist dann viel mehr zu befürchten, dass Körper, Geist und Psyche sich von einander
weg bewegen und dadurch neue schwerwiegende Beeinträchtigungen für unser
praktisches und spirituelles Leben entstehen.
Gadamer sagt
dazu[1]:
„Nicht nur das Verstehen und Auslegen,
sondern auch das Anwenden des sich selbst Verstehen ist Teil des einen
hermeneutischen Vorgangs.“
Als Philosoph
betont er die Bedeutung der Sprache für die Hermeneutik und arbeitet in aller
Deutlichkeit heraus, dass wir im Gespräch, beim Lesen und Interpretieren schon
immer in der Sprache sind und in der Sprache leben:
„ Worauf es mir jedoch ankam, war die Sprachlichkeit des Menschen
nicht nur der Subjektivität des Bewusstseins und der in ihr gelegenen
Sprachfähigkeit zu überlassen ..., vielmehr habe ich das Gespräch ins Zentrum
der Hermeneutik gerückt.“
Weiter sagt er
sehr treffend:
„Es kommt nicht nur darauf an, von einander zu hören,
sondern auf einander zu hören. Das ist Verstehen.“
Zu alten
Texten, die anfangen zu reden, sagt er, dass es „durch die Teilhabe an der Überlieferung“ gelingen müsse, die Texte
zu verstehen, zum Sprechen zu bringen und in den eigenen Lern- und Wachstumsprozess
einzubringen. Das sind zweifellos auch Kernpunkte der Hermeneutik.
Hier liegt
natürlich eine besondere Schwierigkeit der alten indischen Texte des
Buddhismus, zum Beispiel von Nâgârjuna das MMK, das vor mehr als 1.800 Jahren
formuliert wurde. Aber dabei gibt es auch Ähnlichkeiten zu unserer Sprache, die
häufig unterschätzt werden: Sanskrit
ist eine indogermanische Sprache, hat also dieselbe Wurzel wie die westlichen
Sprachen zum Beispiel Latein, Griechisch und Deutsch. Es gibt dort also Verbindungen
der Sprache, die zwar zum Teil verschüttet sind, aber durchaus relevant werden
können. In einem anderen Zusammenhang spricht Gadamer von der „hermeneutischen
Fantasie“ und dies sei „der Sinn für das Fragwürdige und das was es von uns
verlangt“ [2].
Damit sind
unseres Erachtens wesentliche Eckpunkte der Arbeit am MMK bezeichnet und in
dieser modernen Philosophie enthalten. Die Hermeneutik ist nach weitgehender
Übereinstimmung in der Fachwelt eine der bedeutendsten philosophischen
Leistungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eng mit dem Namen
Gadamer verbunden.
Ein
Schwerpunkt des Buddhismus ist zweifellos die Veränderung und Entwicklung des
eigenen Geistes. Sicher muss man heute unter Geist auch die Psyche verstehen,
die in früheren Zeiten nicht vom Geist unterschieden wurde. Meistens ist bei
der Ganzheit des Menschen von der Einheit von Geist und Körper die Rede, aber
gemeint ist natürlich die Einheit von Körper,
Geist und Psyche. Ich werde dies bei den weiteren Überlegungen auch so zu
Grunde legen.
Besonders
fruchtbar für eine Verbindung des Buddhismus, der wie bei Nâgârjuna die
Wechselwirkung und die dabei möglichen Entwicklungen und Wachstumsprozesse in
den Vordergrund rückt, ist aus meiner Sicht neben anderen die Gesprächstherapie von Carl R. Rogers[3],
dessen Ansatz zur menschlichen Kommunikation weit über die eigentliche Therapie
zwischen einem psychisch kranken Patienten und den Therapeuten hinausgeht.
Wenn die
moderne Psychotherapie sich zum Ziel setzt, dass psychisch kranke Menschen
„normal“ werden und im praktischen Leben ihren Alltag und ihre Lebens-Planungen
meistern, so geht der Buddhismus weiter und fragt sich, ob das sogenannte
normale Leben wirklich das bestmögliche
ist, das von Schmerz und Leiden weitgehend befreit ist und die psychische
Blockierungen des "Normalen" überwunden hat. Dass in der modernen
Gesellschaft hierbei Kommunikationsprozesse von zentraler Bedeutung sind, wird
sicher niemand bestreiten. Der bekannte Soziologe Niklas Luhmann hat daher zur Frage sozialen Gruppen folgerichtig
die Kommunikation und deren Grenzen in den Mittelpunkt gestellt.[4]
Bei der
Analyse des zentralen Begriffs pratitya
samutpada, gemeinsames Entstehen in Wechsel-Wirkung, in der Präambel des
MMK muss es daher darum gehen vor allen Dingen die Wechselwirkung zwischen
Menschen in der Gruppe, aber auch zwischen Lehrer und Schüler genauer zu
analysieren und mit den Erkenntnissen der modernen Psychologie in Verbindung zu
bringen. Aus meiner Sicht bietet hierfür Carl R. Rogers eine gute Grundlage. Er
sagt zum Beispiel, dass sich bei gelungenem Gespräch[5]
„eine neue Gestalt, ein revidiertes Selbst herausbildet.
Diese neue Struktur ist nicht so rigide und unflexibel (wie früher), sondern wandelt
sich öfter, wenn Gefühle im Bewusstsein Raum finden.“
Dies sei eine
Erfahrung des unmittelbaren Selbst
und nicht „über das Selbst. (Denn) intellektuelle
Einsicht allein reicht nicht aus.“ Wenn wir bei der Interpretation dieser
Aussagen zunächst den im Buddhismus schwierigen Begriff des Selbst beiseite lassen und ihn insbesondere von dem
Begriff und der Bedeutung des Atman
der vor-buddhistischen Zeit ablösen, sind das in der Tat Aussagen, die durchaus
in der buddhistischen Literatur wiederzufinden sind.
Rogers fährt
fort:
„Die neue Selbstgestalt ist eine fließende
veränderliche Struktur, wobei das eigene Erleben immer mehr zur Grundlage der
Selbstbewertung wird.“
Schließlich „erscheint die Wahrnehmung des Selbst radikal
gewandelt. Sie ist fließender, nicht mehr so starr und statisch. Das „Ich“ hat
sich fast im Wahrnehmungsfeld verloren.“
Das heißt
nichts anderes, als dass der Mensch nicht mehr eingezwängt ist in feste
Strukturen und Vorstellungen des Ich, dabei
unablässig um sich selbst kreist und die lebendige Wechselwirkung mit anderen
Menschen und der Umwelt weitgehend verloren hat. Im Gegensatz dazu hat sich ein
Auflösungsprozess dieser schmerzhaften Starrheit
ereignet und befreit den Menschen.
Nach meiner
festen Überzeugung gibt es hierbei große Ähnlichkeiten mit dem Anliegen Gautama
Buddhas und Nâgârjûnas. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass der Mensch die
Fähigkeit entwickelt, seine eigenen
Erfahrungen und Gefühle klar zu erkennen und ihnen freien aber selbst-gesteuerten
Lauf lässt, ohne durch einengende Bewertungen sich von sich selbst zu entfremden.
Der Mensch[6]
„ist nicht mehr gekennzeichnet durch
Entferntheit des Lebens und entdeckt dessen Sinn nicht erst aus großer
zeitlicher Distanz“.
Hier ist also
auch ein zentrales Anliegen des Zen-Buddhismus angesprochen: Das Erleben und
Erfahren der vollen Wirklichkeit genau im Augenblick des Hier und Jetzt, also
nicht als Erinnerung aus der Vergangenheit und nicht als Erwartung für die
Zukunft. Die Unmittelbarkeit des Erfahrens und Erlebens ohne störende
Strukturen, Konzepte, Vorstellungen und Bewertungen sind wesentlicher Teil des
Befreiungsweges im Buddhismus.
Rogers fährt
fort:
„Auf dieser Stufe fürchtet die Person sich nicht mehr davor
Gefühle unmittelbar und gleich differenziert zu erleben, (vor Allem) in
zwischenmenschlichen Beziehungen“.
Er sagt weiter
: Der Mensch
„akzeptiert sich selbst und vertraut auf
seinen organismischen Prozess, der weiser ist als der Verstand allein (oder
sein Körper allein). Jedes Erlebnis trägt seine eigene Bedeutung und wird nicht
wie ein vergangenes Konstrukt interpretiert“.
Er beschreibt den Menschen als einen fortlaufenden offenen Prozess, ein Prozesskontinuum, das
„die Veränderung von einem starren zu einem fließenden
Zustand erlebt. Es ist eine Beschreibung der Transformationen, die sowohl
beobachtet wie erlebt werden können“.
Ich hoffe
durch diese Zitate ist deutlich geworden, wie nahe buddhistische Aussagen der
Befreiung und die Formulierungen des Psychologen Rogers zusammengehen. Wir werden bei der Interpretation des MMK an
geeigneten Stellen darauf zurückkommen. Besonders möchte ich die enge
Verbindung zum Zen-Buddhismus erwähnen, die Meister Dôgen in seinem berühmten
Kapitel der Sein-Zeit tiefgründig und
umfassend dargestellt hat[7].
Die volle
Wirklichkeit, soweit sie überhaupt für einen Menschen erfahrbar ist, gibt es
dabei nur im Augenblick, der allerdings nicht, wie es manchmal fälschlich
heißt, radikal von der Vergangenheit und Zukunft abgetrennt ist. Eine solches
Verständnis von „zerhackten“ unverbundenen Zeit-Partikeln des damaligen
Buddhismus hat Nâgârjûna in aller Klarheit zurückgewiesen (Lehre der sog. Sautrantikas). Denn bei einer solchen
radikal gedachten Abtrennung ist es zum Beispiel unmöglich, den Sinn eines
Wortes oder eines Satzes überhaupt zu verstehen, weil es immer um einen Ablauf
der Worte geht, die sich zu dem Sinn
im Satz und im Gespräch zusammenfügen.
Bei abrupter
Unterbrechung zwischen den Augenblicken wäre es zum Beispiel überhaupt nicht
möglich, Melodien der Musik zu erkennen. Sie ist immer im Fluss und das volle
Erleben des Augenblicks ist überhaupt nicht möglich, wenn er von der Vergangenheit
der Melodie abgetrennt wird. Auch eine gewisse Erwartung und Ahnung in die
Zukunft schwingt im Erleben und Erfahren des Augenblicks mit. Sie sollte
allerdings nicht zum dominanten Gefühl werden, weil die Zukunft natürlich viele
Unsicherheiten birgt und es wenig Sinn macht, sich in alle Einzelheiten hinein
zu denken oder hineinzufühlen. Das muss zu Enttäuschungen führen. Zudem werden
Gedanken an die Zukunft je nach emotionalem Zustand des Menschen stark von
Gefühlen gefärbt, also zum Beispiel von Angst, Erwartungsdruck oder auch
Euphorie und Illusionen. All das ist nach Gautama Buddha eher schädlich und
erhöht die Leidens-Wahrscheinlichkeit des Menschen.
Rogers entwickelt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen der Therapie
sehr genaue Methoden zur Frage der Wechselwirkung zwischen Menschen und stellt
dabei in den Vordergrund, dass es keine Unterdrückung,
Bevormundung, Erniedrigung oder dergleichen geben darf. Gespräche müssen
offen für die Zukunft sein und basieren auf kreativen
gemeinsamen geistigen und psychischen Prozessen der Teilnehmer.
Wenn es sich
um ein Gespräch zwischen Lehrer und Schüler handelt, sind dabei an den Lehrer
besonders hohe Anforderungen zu stellen. Der Lehrer muss bereit sein, eigene
Fehler zuzugeben, eigene Begrenzungen klar zu legen, aber auch Ehrlichkeit in
Bezug auf seine eigenen Gefühle übermitteln. Dadurch entsteht ein
Grundvertrauen, das notwendig ist für jeden kreativen Kommunikationsprozess auf
beiden Seiten. Ob das bei allen buddhistischen Lehrern und Lehrerinnen immer
der Fall ist, muss wohl leider bezweifelt werden.
Besonders
möchte ich hervorheben, dass die Überwindung und „das zur Ruhe kommen“ von Schmerzen und Leiden ein hoch kreativer
Prozess ist, der nur gelingt, wenn ein wachsendes Vertrauen zu sich selbst, zum
eigenen Können und zum Lehrer wirksam ist.
Wir kommen
damit zu einem wesentlichen Aspekt der Wechselwirkung von pratitya samutpada: notwendig ist die unbeschränkte menschliche
Anerkennung des jeweils anderen und die Ermutigung im Gespräch zu eigenen
Gefühlen und eigenen Vorstellungen. Ich habe daher durchaus Bedenken, ob die im
Buddhismus üblichen Begriffe „Belehren“
oder „Unterweisung“ geeignet sind,
einen zeitgemäßen Buddhismus im Westen zu kennzeichnen. Beide Begriffe
unterstellen aus meiner Sicht, dass es darum geht, ein bestimmtes Wissen, das
zum Beispiel durch die buddhistische Tradition vorgegeben ist, einfach und
unidirektional an den Schüler zu übermitteln, ihn also zu belehren und zu unterweisen.
Das
kennzeichnet jedoch nicht den eigenen
Befreiungs-Prozess und -Weg, der nur vom Menschen selbst aus sich selbst
erfolgen kann. Ein Lehrer sollte dabei eher Helfer und Coach sein, als dass er
von oben herab die angeblich unbezweifelbare buddhistischen Lehren verkündet,
die der Schüler dann zu lernen und auswendig wiederzugeben hat. Buddhismus ist
immer auch und vor Allem eigene Erfahrung und keine Belehrung und Unterweisung.
Der
Zen-Meister Dôgen betont mit Nachdruck , dass Wissen und Intellektualismus
allein nicht ausreichen, um den Buddhismus „zu verstehen“. Nishijima Roshi
spricht gern von intuitiver Vernunft
anstatt Denken und Fühlen. Im Shôbôgenzô verwendet Dôgen, wie in der
buddhistischen Lehre durchaus üblich, gern den Begriff höchstes Wissen (prashna paramita). Dieses höchste Wissen ist aus
der Erfahrung selbst zu entwickeln. Es verwendet zwar die schriftlich
aufgezeichnete buddhistische Lehre oder die mündlich übermittelten Weisheiten,
Gleichnisse oder Kôans, aber eigenes Erkennen und Erfahren kann kaum auf diese
Weise übermittelt werden: es muss aus der eigenen
Individualität und dem eigenen Karma
entstehen. Dies ist aus meiner Sicht die zentrale Aussage des Entstehens in Wechselwirkung, hier für
zwei Menschen oder in einer Gruppe der Kommunikation.
Ich möchte
nicht verschweigen, dass im Buddhismus die zentrale Frage der Individualität des Menschen oft unscharf
und verschwommen bleibt. Allein durch die ganz individuelle Entwicklung unseres
Gehirns, also des neuronalen Netzes, von der Phase der Vorgeburt bis zum späten
Alter ergibt sich, dass jeder Mensch eine unverwechselbare
Individualität hat. Der Gehirnforscher Manfred
Spitzer spricht davon, dass jeder Mensch im gesamten Universum ein Unikat ist. Diese Aussage ist gerade
mit der Karma-Lehre voll in Einklang zu bringen, denn das was man ganz
individuell erfährt und tut, kann niemals identisch sein mit dem Tun eines
anderen Menschen. Allein in einem einzigen Leben, wenn man einmal die
Wiedergeburt aus der Überlegung ausklammert, ist das Leben unverwechselbar,
weil die Konstellationen, Kontakte, Einflüsse, das eigene Erleben, die eigene
psychische und geistige Entwicklung und Wechsel-Wirkung jeweils einzigartig
ist.
Selbstverständlich
gibt es für ein gelungenes oder wie es im Buddhismus heißt erleuchtetes Leben auch allgemeine Prinzipien, die sich mit der
Individualität verbinden, also eine Wechselwirkung eingehen. Auf diesen
Grundsatz geht übrigens Meister Dôgen bei der Beschreibung der großen
buddhistischen Meister immer wieder ein. Sie seien als „Persönlichkeit“ sehr unterschiedlich, um nicht zu sagen, radikal
verschieden, hätten aber durch die Verwirklichung
im buddhistischen Sinne große Gemeinsamkeiten und gleiche Erlebnis- und
Denkwelten und damit sogar unauflösbare Verbindungen unter einander.
Die wichtige
Frage, wann und wie es sinnvoll ist, etwas zu bewerten und zu urteilen, möchten
wir später bei der Untersuchung der einzelnen Kapitel des MMK noch im Einzelnen
behandeln. Dass man völlig ohne alle Bewertungen überhaupt leben kann, wie es
manchmal fälschlich im Buddhismus gesagt wird, erscheint mir utopisch und
unrealistisch. Auch die Gehirnforschung weist nach, dass ein gesundes Leben
ohne einen Anteil an Bewertungen gar nicht möglich ist. Die Erfahrungen jedes
einzelnen Menschen bilden genau diesen Erfahrungsschatz, ohne den man überhaupt
nicht existieren kann.
Von
entscheidender Bedeutung ist jedoch, ob Bewertungen zu Abhängigkeiten, Anhangen und Bedingtheiten führen, die Gier, Hass
und Verblendung zur Folge haben. Es geht also um heilsame und unheilsame Bewertungen und nicht um eine idealistische
oder dogmatische Ablehnung aller Bewertungen überhaupt. Dieses wäre eine
ontologische Aussage, die für praktischen Buddhismus unbrauchbar und
lebensuntauglich ist. Weiterhin ist wichtig, dass die jeweiligen Bewertungen
dem Bewusstsein, der Selbst-Reflexion und überhaupt dem Geist zugänglich sind und dass „es
auch anders sein kann“. Diese geistige Freiheit und psychische
Beweglichkeit bei maßgeblichen Bewertungen zeichnet sicher den Menschen
gegenüber dem fest programmierten
instinkthaften Verhalten von Tieren aus: Wie Georg W. Bertram in seiner Vorlesung an der FU Berlin über Hegel im Sommer 2015 sagte: „Der Mensch ist nur ein Roboter", wenn
er ohne Selbst-Reflexion lebt und
kein Verhalten zu sich hat.
Er rennt dann
immer wieder zyklisch in sein eigenes Unglück. Dann ist auch keine symmetrische Kommunikation zweier
Menschen nach Hegel möglich, die sich anerkennen und achten. Ein solcher programmierter
Mensch hat keinerlei Freiheit in seinem Handeln und Entscheidungen: er lebt
nach Hegel bedingt. Ziel sei aber unbedingt zu denken und zu handeln.
Wir verstehen Nâgârjûnas
Interpretation des gemeinsamen Entstehens
in Wechselwirkung, pratitya samutpada,
ganz ähnlich: gerade nicht abhängig zu sein, kein Anhangen zu haben und ohne
Bedingungen zu denken, fühlen und zu handeln, aber gleichwohl in die
Wechselwirkung und Vernetzung eingebunden zu sein. Damit ist u. E. im Einklang
mit dem Buddhismus zugleich ein moderner umfassender
Freiheitsbegriff gekennzeichnet, der
als Leerheit von solchen Bedingtheiten verstanden werden sollte.
Innerhalb des wechsel-wirkenden gemeinsamen Entstehens kommt
es darauf an, sich einen Freiheitsraum für Denken, Reflektieren, Fühlen,
Bewerten und Entscheiden zu schaffen, der Schmerzen und Leiden zur Ruhe kommen
lässt. Genau das sagen die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad.
Daraus wird allerdings
auch deutlich, dass im Buddhismus zweifellos noch Klärungen und Bereinigungen
wichtiger Schlüsselbegriffe notwendig sind.
Dazu möchten
wir mit unseren Arbeiten zu Nâgârjûnas MMK einen Beitrag leisten.
Im Rahmen des
Buddhismus darf auf keinen Fall vernachlässigt werden, dass Ethik und Moral zentrale Bedeutung für
ein glückliches und befreites Leben haben. Nicht zufällig verwendet Gautama
Buddha beim Achtfachen Pfad den Begriff rechte
Sichtweise, rechte Entscheidung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebens-Erwerb, bis hin zur rechten Achtsamkeit und rechten Meditation. In diesem Begriff "recht" steckt nach meiner festen
Überzeugung, die zum Beispiel auch Peter Gäng, der dieses Sûtra übersetzt hat,
teilt, die Bedeutung von richtig und
auch ethisch korrekt[8].
Das heißt nichts anderes, als dass der Weg der Befreiung und Erleuchtung nur
bei ethisch einwandfreiem Handeln gegangen werden kann.
Gerade bei der
Moral sind natürlich extreme Übertreibungen zu vermeiden, die zu Ideologien und
Erstarrungen führen oder sogar in die Extreme der Askese und Welt-Entsagung gehen.
So etwas hat Gautama Buddha als unbrauchbar erkannt und deutlich abgelehnt.
Hier ist der Mittlere Weg das Richtige: die Vermeidung von Extremen, der
Nachlässigkeit und Selbstsucht einerseits und der selbst-zerstörerischen und
selbst-quälenden Askese andererseits.
Bekanntlich
erlebte Gautama Buddha die Erleuchtung, als er diese Extreme des Geistes und
des Körpers beendete, wieder normale Nahrung aß, mit Freude trank, normal
schlief und sich dann
die volle wunderbare Wirklichkeit des Lebens und der Welt
für ihn jäh und unerwartet eröffnete, als er den strahlenden Morgenstern
wirklich erblickte.
[1] Dutt, Carsten (Hrsg.): Hans-Georg Gadamer im Gespräch, 10 ff
[2] ebd., S.17
[3] Rogers, Carl R.: Therapeut und
Klient. Grundlagen der Gesprächstherapie.
[4] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme.
Grundriß einer allgemeinen Theorie.
[5] Rogers, Carl R.: Therapeut und
Klient. Grundlagen der Gesprächstherapie, S. 143 ff
[6] ebd., S. 149
[7] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer
des wahren Dharma-Auges, Bd. 1, S. 135 ff.
[8] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I