Wir arbeiten an der
Entschlüsselung des zentralen Basis-Textes des Zen-Buddhismus
"Shinjinmei" und versuchen die Beziehung zum Daoismus, sowie dem frühen
Buddhismus und dem Mittleren Weg bzw. der Leerheit des großen indischen
Meisters Nagarjuna zu klären. Das erscheint uns sehr spannend und schützt vor
dem falschen Verständnis des Buddha-Dharma. Was gibt es dabei Neues?
Wegen der z. T. nicht
einfachen Argumente bitte ich um Nachsicht.
Für mich ist es historisch
nahezu sicher, dass der Autor des Shinjinmei, Sosan, der dritte große Meister des Chan-Buddhismus in China, das
MMK, den Mittleren Weg Nagarjunas, kannte und als Grundlage verwendete. Diese
Texte lagen spätesten seit der Übersetzungs-Arbeit Kumarajivas vor. Es ist
weiter sicher, dass Meister Sosan die Grundlagen des Dao De Jing verwendete und so der Chan- und Zen- Buddhismus vom
Daoismus maßgeblich geprägt wurde. Schließlich führte Bodidharma die "Alltags-Erleuchtung" und Praxis des
Hier und Jetzt sowie die Zazen-Meditation
in China ein. Außerdem nehme ich meine eigenen direkten Erfahrungen mit Nishijima Roshi von über 17 Jahren gemeinsamer
Arbeit für das Verständnis von Meister Dogen und des Buddhismus hinzu.
Die obigen Meister sind
wahre Giganten des buddhistischen Geistes,
von denen wir besonders profitieren
können. Was sagen sie uns und gibt es bei ihnen auch Gegensätze?
Demgegenüber halte ich die
europäische eher statische Philosophie des Seins und Seienden von Parmenides
bis zu Heidegger und seiner Fundamentalontologie, soweit ich sie verstehe, für
weniger hilfreich. Diese Philosophie hat wenig zum Verständnis des Werdens und der Prozesse beigetragen und
verliert sich m. E. zu leicht in intellektuelle Abstraktionen und in der
Tendenz zum Allgemeinen. Dabei droht auch Gefahr von der aristotelische Logik
des dichotomen Richtig/Falsch, also des exklusiven ODER. Diese vom Geist künstlich erzeugten absoluten Gegensätze bezeichnet man im Buddhismus bekanntlich auch als Dualismus, der zum Leiden führt und zu überwinden ist.
Eine derartige Logik ist m. E. hauptsächlich
zur Falsifizierung geeignet (wie auch bei Nagarjuna), nicht aber zur
angemessenen Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit von Prozessen und damit
dem Gewinn an realem Welt-Verständnis. Unsere westlich Philosophie untersucht m. E.
eher Zustände und das abstrakte Seiende und Sein, aber weniger Veränderungen, Befreiung und Emanzipation.
Gleichwohl ist die Aufforderung von Kant: "Habe den Mut, selbst zu denken!" für unsere Arbeit am
Buddhismus von zentraler Bedeutung. Hierarchische "Belehrungen" und "Belehrt-Werden" sind nun wirklich überholt.
Welche Sätze des Buddhismus dürfen Shinjinmei nicht
widersprechen?
Mindestens die folgenden 14 Aussagen
des Buddhismus sind beim Shinjinmei und Daoismus klärungsbedürftig: Es gilt
generell im Buddhismus die Priorität von Verändern, Werden, Entstehen und
Vergehen gegenüber Statik und Substanz (konkret oder abstrakt, Seiendes und
Sein), Unveränderlichkeit und Ewigkeit. Dieses Verändern ist Voraussetzung für die Überwindung des Leidens, Wachsen, der Emanzipation, Befreiung,
Erleuchtung usw. Die Ruhe und Ausgeglichenheit sind dem gegenüber Voraussetzung
der Zazen-Meditation: "Körper und Geist fallen lassen".
1. Rechte Entscheidung und
Zielsetzung
2. Rechte Rede
3. Rechtes Handeln
4. Rechte Achtsamkeit, klare
Eigen-Beobachtung beim Denken, Fühlen und Handeln
5. Rechte Meditation, hier als
Zazen jeden Tag
6. Trägsein und Erstarrung
als Hemmnis
7. Aufgeregtheit und Unruhe
als Hemmnis
8. Unterscheidung als Teil
der Erleuchtung
9. Freude als Teil der
Erleuchtung
10. Ausschluss der Extreme
von Existenz/absolutem Sein und Nicht-Existenz/absolutem Nicht-Sein
11. Absolutes substanzhaftes
Entstehen und Nicht-Entstehen als falsche Doktrin
12. Absolute Differenz und
Identität als falsche Doktrin
13. Substanzhafte Entitäten
für Eines und Vieles als falsche Doktrin
14. Getrennte dichotome
Entitäten von Beginn und Ende als falsche Doktrin im Gegensatz zu prozesshafter
Verbindung
12 Totales Entstehen und
Vergehen/Abschneiden aus dem und in das Nichts als falsche Doktrin
13. Zur Ruhe-Kommen anstatt
totales dichotomes Vergehen, Vernichten und Abschneiden
14. Wechselwirkendes gemeinsames
Entstehen, pratitya samutpada, als "Definition" der Leerheit und des
Mittleren Weges
Was ist Leerheit?
Es gibt diverse
Vorstellungen und teils geheimnisvolle Beschreibungen oder Definitionen von
Leere und Leerheit. Maßgeblich kann m. E. nur die "Definition" des wichtigsten Meisters der Leerheit, Nagarjuna,
sein. Damit sind besonders mystische Fantasien der Leere vom Tisch, die dem
Nihilismus gefährlich nahe kommen. Was wird nun im MMK gesagt?
Von zentraler Bedeutung ist Vers 24.18 des MMK
(Übersetzung Elisabeth Steinbrückner und Yudo Seggelke):
„Das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung
angeeignet haben, ergibt sich eben der Zugang zum mittleren Weg.“
Dieser
Vers ist zweifellos von fundamentaler
Bedeutung: Nagarjuna beschreibt in großer Klarheit die Bedeutung und
Funktion des Begriffes der Leerheit
für die Sichtweise der unverzerrten Realität
des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung und den Mittleren Weg. Alle drei Bereiche und Begriffe sind nahezu
gleichbedeutend.
Diese
Realität hat keine Abhängigkeit von den Giften, Dogmen und Doktrinen. Sie ist
„ohne“ (Hui neng) und dieses „Ohne“
bedeutet Leerheit („Ohne-heit“). Nicht mehr und nicht weniger! Eine „absolute
Leerheit“ gibt es im MMK und nach Buddha nicht. Wahrheit und Leerheit, richtig
und falsch usw. werden also gerade nicht
absolut sondern konkret-phänomenologisch
verstanden.
Die
„höchste Wahrheit“ ist gerade keine „absolute Wahrheit“, und sie ist auch
keine „absolute Leerheit“, denn dann
wäre sie ein Extrem, ohne Wechselwirkung
und isoliert. Sie müsste daher aus sich
selbst entstanden sein, aber das kann nicht beobachtet werden.
Leerheit ist also schlicht als "gemeinsames
Entstehen in Wechselwirkung" zu
verstehen, und zwar ohne Gier, Hass und Verblendung durch falsche Ideologien,
Vorurteile, Doktrinen usw.. Das hilft m. E. gut, um bei der Leerheit mögliche
Unklarheiten, Mystifizierungen und die Verwechslung mit dem Nichts oder
Nihilismus zu vermeiden. Die Veränderungen wie Entstehen und Vergehen im
Sinne der Leerheit sind also die Kernaussagen des Buddhismus,
unverzichtbar und notwendig für die Befreiung als Prozess. Jede Statik,
Starrheit oder Ewigkeit wie Nicht-Entstehen ist falsch und entspricht
leider dem Brahmanismus vor Buddha, âtman und Dharmas, oder der falschen
Doktrin von Substanzen der Sarvastivadins. Dieses Verständnis ohne Leerheit
ist abzulehnen.
Aber
in der Zazen-Meditation gibt es natürlich: "Körper und Geist fallen
lassen" als Pendant zur Alltags-Erleuchtung
Daoismus verstehen
Bisher habe ich mich vor
allem mit den Kapiteln 11 und 40 des Dao
De Ging beschäftigt.
Zu Kapitel 11:
Ein Rad habe 30 Speichen und
die Leerheit der Nabe. Diese Leerheit sei die Brauchbarkeit des Rades. Was kann
das bedeuten?
Der Sinn und Nutzen des
Wagens ist Bewegung und Transport von Menschen und Waren. Er benötigt als Ganzheit mindestens zwei sich drehende
Räder, nur dann ist er real und damit leer. Die Räder sitzen mit ihrer Nabe auf
der Achse, Nabe und Achse sind real und damit leer, dann und nur dann wenn sie
ordentlich verbunden sind und funktionieren.
Ein Rad als getrennte und
abmontierte Entität macht keinen Sinn, es ist funktionslos und nicht-leer und
damit nicht real. Es existiert dann als nicht-leeres materielles Ding oder als
nicht-leere Idee. Ein sich nicht drehendes
Rad gibt es also nach Definition und Funktion in der Wirklichkeit nicht, so
wenig wie es einen nicht gehenden Geher
gibt (MMK, Kap. 2)
Der sich bewegende Wagen mit
sich drehenden Rädern ist gleichzeitig Metapher der Befreiung und Emanzipation des Menschen. Ein stehender Wagen und
ein abmontiertes Rad bedeutet falscher Stillstand ohne Befreiung. Ein einzelnes
abmontiertes Rad bedeutet außerdem Destruktion, Vereinzelung, Sinnlosigkeit,
Funktionslosigkeit und Leblosigkeit des Menschen. Es macht keinen Sinn.
Die gleiche Argumentation
gilt für einen Topf ohne Benutzung und Inhalt und für ein Haus ohne Türen und
Fenster, da es nicht benutzbar zum Leben und ohne Sinn ist.
Zu Kapitel 40:
Dieses offensichtlich zentrale Kapitel betrifft aus meiner
Sicht das Werden als Bewegung,
Dynamik und Leben (z. B. neuronales Netz und Ökosystem) im Zusammenhang mit der
Statik von Sein und Seiendem der
Dinge und Phänomene. Diesen beiden Aspekte sind auch sinnvoll, um die
unendliche niemals erfassbare Komplexität der Welt "handhabbar" zu
machen, also sinnvoll zu reduzieren. Die Philosophie des Seins und Seiendes,
auch wenn man versucht sie existentiell "aufzuladen", bringt dabei für
die Erklärung von Lebens-Prozessen nicht viel. Ohne den Ansatz des Werdens und der Emanzipation kommt man nicht weiter. Das ist auch die Bedeutung der
rückgekoppelten Prozesse der Wechselwirkung, also der Leerheit. Die Leerheit
ist also nicht zuletzt durch die Freiheit
des Entstehens und Werdens gekennzeichnet, und d. h. gleichzeitig das
"Ohne-Sein" des Hui neng von Gier, Hass und Verblendung durch
Ideologien und andere Extreme.
Den Zustand des Seienden und
Seins nach westlicher Philosophie gibt es quasi nur in einem ganz kurzen Augenblick der dynamischen Prozesse und
der Vernetzung. Das Sein kann daher in der Wirklichkeit nicht ewig sein, es
kann nur als absolute Idee des
Menschen ewig sein. Die unendliche
Komplexität bleibt Geheimnis, weil sie kein Mensch vollständig erfassen kann.
Wer das anerkennt, kann freier leben. Und niemand ist allwissend, auch und
gerade nicht der Mensch Buddha.
Dao als Gesetz oder Wahrheit der Welt hat also die Qualität von Sein-Werden. Ein isoliertes absolutes Sein
oder Nicht-Sein kann nicht beobachtet werden. Die Semantik von statischem Sein
und Nicht-Sein, insbesondere in Form von Absolutheit , bringt daher wenig für
unser Welt-Verständnis. Darüber hinaus kann Nicht-Sein und Nicht-Seiendes als Aussage
der Veränderung und Dynamik verstanden werden, nämlich nicht die Sichtweise des
Statischen. Dynamik ist in diesem Sinne "Nicht-Statik". Und: Dynamik
hat dabei Priorität, weil sich alles andauernd verändert und nichts statisch
ist. Das zu leugnen oder zu übersehen, führt zum Leiden
Dieser Zusammenhang wird
besonders klar beim neuronalen Netz unseres Organs
das Geistes: Es verändert sich ohne
Unterbrechung und bildet und verändert laufend Synapsen und Nervenfasern, es
ist niemals statisch und unverändert. Es gibt auch keine unveränderlich
gespeicherten Infos im Gehirn, so sehr das ein alter Menschheits-Traum sein
mag. Werden und Sein sind zwei "Gesichter" der Welt und bedingen sich
wechselseitig. Es gibt kein Sein ohne Werden und umgekehrt.
Damit kann Kap. 40 relativ
leicht entschlüsselt werden:
Aus dem Werden, der Dynamik, also der
Nicht-Statik, dem Nicht-Sein entsteht der andere Zustand des statischen Seins und umgekehrt. Dies ist
ein fortlaufender rückgekoppelter und vernetzter Prozess. Dieses Seiende des
Seins lässt alle Dinge und Phänomene erscheinen.
Eine solche Bewegung des Dao
kann als Rückkehr und Rückkoppelung
verstanden werden. Da diese Prozesse und Zustände natürlich sind, benötigen sie
keine zusätzlichen treibenden Kräfte, Insofern sind sie schwach und im dynamischen
Gleichgewicht.
Insgesamt erscheint mir
manches bei Dao De Jing, soweit ich es verstehe, auch mythisch und
philosophisch eher vor-vernünftig. Es bedurfte m. E. daher deutlicher Klärung
durch den vernünftigen Buddhismus, um
Chan und Zen zu entwickeln. Dazu eignet sich m. E. besonders der frühe
Buddhismus und Madyamika von Nagarjuna, denn das MMK ist von größter
philosophischer Prägnanz und Präzision. Außerdem ist der Ansatz der Alltags-Erleuchtung und des praktischen Handelns in Verbindung mit
der Meditation des Zazen die zentrale
Basis des Chan und Zen.