Freitag, 8. September 2017

Buddhismus, Shinjinmei und zwei ausgewählte Kapitel des Dao De Jing: Gegensatz oder nicht?



Wir arbeiten an der Entschlüsselung des zentralen Basis-Textes des Zen-Buddhismus "Shinjinmei" und versuchen die Beziehung zum Daoismus, sowie dem frühen Buddhismus und dem Mittleren Weg bzw. der Leerheit des großen indischen Meisters Nagarjuna zu klären. Das erscheint uns sehr spannend und schützt vor dem falschen Verständnis des Buddha-Dharma. Was gibt es dabei Neues?
Wegen der z. T. nicht einfachen Argumente bitte ich um Nachsicht.

Für mich ist es historisch nahezu sicher, dass der Autor des Shinjinmei, Sosan, der dritte große Meister des Chan-Buddhismus in China, das MMK, den Mittleren Weg Nagarjunas, kannte und als Grundlage verwendete. Diese Texte lagen spätesten seit der Übersetzungs-Arbeit Kumarajivas vor. Es ist weiter sicher, dass Meister Sosan die Grundlagen des Dao De Jing verwendete und so der Chan- und Zen- Buddhismus vom Daoismus maßgeblich geprägt wurde. Schließlich führte Bodidharma die "Alltags-Erleuchtung" und Praxis des Hier und Jetzt sowie die Zazen-Meditation in China ein. Außerdem nehme ich meine eigenen direkten Erfahrungen mit Nishijima Roshi von über 17 Jahren gemeinsamer Arbeit für das Verständnis von Meister Dogen und des Buddhismus hinzu.

Die obigen Meister sind wahre Giganten des buddhistischen Geistes, von denen wir  besonders profitieren können. Was sagen sie uns und gibt es bei ihnen auch Gegensätze?

Demgegenüber halte ich die europäische eher statische Philosophie des Seins und Seienden von Parmenides bis zu Heidegger und seiner Fundamentalontologie, soweit ich sie verstehe, für weniger hilfreich. Diese Philosophie hat wenig zum Verständnis des Werdens und der Prozesse beigetragen und verliert sich m. E. zu leicht in intellektuelle Abstraktionen und in der Tendenz zum Allgemeinen. Dabei droht auch Gefahr von der aristotelische Logik des dichotomen Richtig/Falsch, also des exklusiven ODER. Diese vom Geist künstlich erzeugten absoluten Gegensätze bezeichnet man im Buddhismus bekanntlich auch als Dualismus, der zum Leiden führt und zu überwinden ist.

Eine derartige Logik ist m. E. hauptsächlich zur Falsifizierung geeignet (wie auch bei Nagarjuna), nicht aber zur angemessenen Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit von Prozessen und damit dem Gewinn an realem Welt-Verständnis. Unsere westlich Philosophie untersucht m. E. eher Zustände und das abstrakte Seiende und Sein, aber weniger Veränderungen, Befreiung und Emanzipation. Gleichwohl ist die Aufforderung von Kant: "Habe den Mut, selbst zu denken!" für unsere Arbeit am Buddhismus von zentraler Bedeutung. Hierarchische  "Belehrungen" und "Belehrt-Werden" sind nun wirklich überholt.

Welche Sätze des Buddhismus dürfen Shinjinmei nicht widersprechen?
Mindestens die folgenden 14 Aussagen des Buddhismus sind beim Shinjinmei und Daoismus klärungsbedürftig: Es gilt generell im Buddhismus die Priorität von Verändern, Werden, Entstehen und Vergehen gegenüber Statik und Substanz (konkret oder abstrakt, Seiendes und Sein), Unveränderlichkeit und Ewigkeit. Dieses Verändern ist Voraussetzung für die Überwindung des Leidens, Wachsen, der Emanzipation, Befreiung, Erleuchtung usw. Die Ruhe und Ausgeglichenheit sind dem gegenüber Voraussetzung der Zazen-Meditation: "Körper und Geist fallen lassen".

1. Rechte Entscheidung und Zielsetzung
2. Rechte Rede
3. Rechtes Handeln
4. Rechte Achtsamkeit, klare Eigen-Beobachtung beim Denken, Fühlen und Handeln
5. Rechte Meditation, hier als Zazen jeden Tag
6. Trägsein und Erstarrung als Hemmnis
7. Aufgeregtheit und Unruhe als Hemmnis
8. Unterscheidung als Teil der Erleuchtung
9. Freude als Teil der Erleuchtung
10. Ausschluss der Extreme von Existenz/absolutem Sein und Nicht-Existenz/absolutem Nicht-Sein
11. Absolutes substanzhaftes Entstehen und Nicht-Entstehen als falsche Doktrin
12. Absolute Differenz und Identität als falsche Doktrin
13. Substanzhafte Entitäten für Eines und Vieles als falsche Doktrin
14. Getrennte dichotome Entitäten von Beginn und Ende als falsche Doktrin im Gegensatz zu prozesshafter Verbindung
12 Totales Entstehen und Vergehen/Abschneiden aus dem und in das Nichts als falsche Doktrin
13. Zur Ruhe-Kommen anstatt totales dichotomes Vergehen, Vernichten und Abschneiden
14. Wechselwirkendes gemeinsames Entstehen, pratitya samutpada, als "Definition" der Leerheit und des Mittleren Weges

Was ist Leerheit?
Es gibt diverse Vorstellungen und teils geheimnisvolle Beschreibungen oder Definitionen von Leere und Leerheit. Maßgeblich kann m. E. nur die "Definition" des wichtigsten Meisters der Leerheit, Nagarjuna, sein. Damit sind besonders mystische Fantasien der Leere vom Tisch, die dem Nihilismus gefährlich nahe kommen. Was wird nun im MMK gesagt?
Von zentraler Bedeutung ist Vers 24.18 des MMK (Übersetzung Elisabeth Steinbrückner und Yudo Seggelke):

„Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der Zugang zum mittleren Weg.“

Dieser Vers ist zweifellos von fundamentaler Bedeutung: Nagarjuna beschreibt in großer Klarheit die Bedeutung und Funktion des Begriffes der Leerheit für die Sichtweise der unverzerrten Realität des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung und den Mittleren Weg. Alle drei Bereiche und Begriffe sind nahezu gleichbedeutend.

Diese Realität hat keine Abhängigkeit von den Giften, Dogmen und Doktrinen. Sie ist „ohne“ (Hui neng) und dieses „Ohne“ bedeutet Leerheit („Ohne-heit“). Nicht mehr und nicht weniger! Eine „absolute Leerheit“ gibt es im MMK und nach Buddha nicht. Wahrheit und Leerheit, richtig und falsch usw. werden also gerade nicht absolut sondern konkret-phänomenologisch verstanden.
Die „höchste Wahrheit“ ist gerade keine „absolute Wahrheit“, und sie ist auch keine „absolute Leerheit“, denn dann wäre sie ein Extrem, ohne Wechselwirkung und isoliert. Sie müsste daher aus sich selbst entstanden sein, aber das kann nicht beobachtet werden.

Leerheit ist also schlicht als "gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung" zu verstehen, und zwar ohne Gier, Hass und Verblendung durch falsche Ideologien, Vorurteile, Doktrinen usw.. Das hilft m. E. gut, um bei der Leerheit mögliche Unklarheiten, Mystifizierungen und die Verwechslung mit dem Nichts oder Nihilismus zu vermeiden. Die Veränderungen wie Entstehen und Vergehen im Sinne der Leerheit sind also die Kernaussagen des Buddhismus, unverzichtbar und notwendig für die Befreiung als Prozess. Jede Statik, Starrheit oder Ewigkeit wie Nicht-Entstehen ist falsch und entspricht leider dem Brahmanismus vor Buddha, âtman und Dharmas, oder der falschen Doktrin von Substanzen der Sarvastivadins. Dieses Verständnis ohne Leerheit ist abzulehnen.

Aber in der Zazen-Meditation gibt es natürlich: "Körper und Geist fallen lassen" als Pendant zur Alltags-Erleuchtung

Daoismus verstehen

Bisher habe ich mich vor allem mit den Kapiteln 11 und 40 des Dao De Ging beschäftigt.

Zu Kapitel 11:
Ein Rad habe 30 Speichen und die Leerheit der Nabe. Diese Leerheit sei die Brauchbarkeit des Rades. Was kann das bedeuten?
Der Sinn und Nutzen des Wagens ist Bewegung und Transport von Menschen und Waren. Er benötigt als Ganzheit mindestens zwei sich drehende Räder, nur dann ist er real und damit leer. Die Räder sitzen mit ihrer Nabe auf der Achse, Nabe und Achse sind real und damit leer, dann und nur dann wenn sie ordentlich verbunden sind und funktionieren.
Ein Rad als getrennte und abmontierte Entität macht keinen Sinn, es ist funktionslos und nicht-leer und damit nicht real. Es existiert dann als nicht-leeres materielles Ding oder als nicht-leere Idee. Ein sich nicht drehendes Rad gibt es also nach Definition und Funktion in der Wirklichkeit nicht, so wenig wie es einen nicht gehenden Geher gibt (MMK, Kap. 2)

Der sich bewegende Wagen mit sich drehenden Rädern ist gleichzeitig Metapher der Befreiung und Emanzipation des Menschen. Ein stehender Wagen und ein abmontiertes Rad bedeutet falscher Stillstand ohne Befreiung. Ein einzelnes abmontiertes Rad bedeutet außerdem Destruktion, Vereinzelung, Sinnlosigkeit, Funktionslosigkeit und Leblosigkeit des Menschen. Es macht keinen Sinn.

Die gleiche Argumentation gilt für einen Topf ohne Benutzung und Inhalt und für ein Haus ohne Türen und Fenster, da es nicht benutzbar zum Leben und ohne Sinn ist.

Zu Kapitel 40:
Dieses offensichtlich zentrale Kapitel betrifft aus meiner Sicht das Werden als Bewegung, Dynamik und Leben (z. B. neuronales Netz und Ökosystem) im Zusammenhang mit der Statik von Sein und Seiendem der Dinge und Phänomene. Diesen beiden Aspekte sind auch sinnvoll, um die unendliche niemals erfassbare Komplexität der Welt "handhabbar" zu machen, also sinnvoll zu reduzieren. Die Philosophie des Seins und Seiendes, auch wenn man versucht sie existentiell "aufzuladen", bringt dabei für die Erklärung von Lebens-Prozessen nicht viel. Ohne den Ansatz des Werdens und der Emanzipation kommt man nicht weiter. Das ist auch die Bedeutung der rückgekoppelten Prozesse der Wechselwirkung, also der Leerheit. Die Leerheit ist also nicht zuletzt durch die Freiheit des Entstehens und Werdens gekennzeichnet, und d. h. gleichzeitig das "Ohne-Sein" des Hui neng von Gier, Hass und Verblendung durch Ideologien und andere Extreme.

Den Zustand des Seienden und Seins nach westlicher Philosophie gibt es quasi nur in einem ganz kurzen Augenblick der dynamischen Prozesse und der Vernetzung. Das Sein kann daher in der Wirklichkeit nicht ewig sein, es kann nur als absolute Idee des Menschen ewig sein. Die unendliche Komplexität bleibt Geheimnis, weil sie kein Mensch vollständig erfassen kann. Wer das anerkennt, kann freier leben. Und niemand ist allwissend, auch und gerade nicht der Mensch Buddha.

Dao als Gesetz oder Wahrheit der Welt hat also die Qualität von Sein-Werden. Ein isoliertes absolutes Sein oder Nicht-Sein kann nicht beobachtet werden. Die Semantik von statischem Sein und Nicht-Sein, insbesondere in Form von Absolutheit , bringt daher wenig für unser Welt-Verständnis. Darüber hinaus kann Nicht-Sein und Nicht-Seiendes als Aussage der Veränderung und Dynamik verstanden werden, nämlich nicht die Sichtweise des Statischen. Dynamik ist in diesem Sinne "Nicht-Statik". Und: Dynamik hat dabei Priorität, weil sich alles andauernd verändert und nichts statisch ist. Das zu leugnen oder zu übersehen, führt zum Leiden

Dieser Zusammenhang wird besonders klar beim neuronalen Netz unseres Organs das Geistes: Es verändert sich ohne Unterbrechung und bildet und verändert laufend Synapsen und Nervenfasern, es ist niemals statisch und unverändert. Es gibt auch keine unveränderlich gespeicherten Infos im Gehirn, so sehr das ein alter Menschheits-Traum sein mag. Werden und Sein sind zwei "Gesichter" der Welt und bedingen sich wechselseitig. Es gibt kein Sein ohne Werden und umgekehrt.

Damit kann Kap. 40 relativ leicht entschlüsselt werden:
Aus dem Werden, der Dynamik, also der Nicht-Statik, dem Nicht-Sein entsteht der andere Zustand des statischen Seins und umgekehrt. Dies ist ein fortlaufender rückgekoppelter und vernetzter Prozess. Dieses Seiende des Seins lässt alle Dinge und Phänomene erscheinen.
Eine solche Bewegung des Dao kann als Rückkehr und Rückkoppelung verstanden werden. Da diese Prozesse und Zustände natürlich sind, benötigen sie keine zusätzlichen treibenden Kräfte, Insofern sind sie schwach und im dynamischen Gleichgewicht.

Insgesamt erscheint mir manches bei Dao De Jing, soweit ich es verstehe, auch mythisch und philosophisch eher vor-vernünftig. Es bedurfte m. E. daher deutlicher Klärung durch den vernünftigen Buddhismus, um Chan und Zen zu entwickeln. Dazu eignet sich m. E. besonders der frühe Buddhismus und Madyamika von Nagarjuna, denn das MMK ist von größter philosophischer Prägnanz und Präzision. Außerdem ist der Ansatz der Alltags-Erleuchtung und des praktischen Handelns in Verbindung mit der Meditation des Zazen die zentrale Basis des Chan und Zen.