Im fundamental wichtigen siebten Kapitel des MMK
des großen indischen Meisters geht es um die Dynamik des Lebens und der Welt. Denn ohne dynamische Prozesse gibt
es keine Überwindung des Leidens, keine Weiterentwicklung auf dem Achtfachen
Pfad und auch keine Alltags-Erleuchtung, also nach Zen-Meister Dogen: "Erleuchtung ist Feuerholz tragen und
Wasser schöpfen". Eine dogmatische oder gar fundamentalistische
Welt-Anschauung führt unweigerlich in menschliche Erstarrung, Resignation und
Leiden. Das ist die Botschaft Buddhas.
Wie kann man aber dieses Kapitel hoher Präzision und
philosophischer Stringenz entschlüsseln? Zeigen die dramatischen buddhistischen
Skandale und Fehlentwicklungen der letzten Zeit um Sogyal Rinpoche und Dorin
Renpo nicht überdeutlich, dass diese "Lehrer" sich die authentischen
Basistexte nicht richtig erarbeitet und nicht richtig verstanden haben? Und
genau dort möchten wir ansetzen: Hören-Sagen,
Da-gibt-es-Was und "bizarrer
Selbst-Buddhismus des Missbrauchs" reichen nun wirklich
nicht mehr aus. Wir müssen an die sicheren Quellen herankommen und hier genau
kommt dieser zentrale Teil des Mittleren Weges zum Zuge.
Dieses Kapitel des MMK ist sehr umfangreich und
detailliert. Es ist daher sicher für die Philosophie und Praxis Nagarjunas von fundamentaler Bedeutung. Wie analysiert
er die wichtigen Probleme von Entstehen,
Andauern und Vergehen für alle relevanten menschlichen Prozesse und deren
Abgrenzung zu Statik, Stillstand und Erstarrung? Und was verbindet diese drei
Merkmale bei einem beobachtbaren und phänomenologisch erfassbaren Prozess.? Wie
können Fehlentwicklungen durch verzerrte und fundamentalistische Doktrinen erkannt,
vermieden und korrigiert werden?
Recht umfangreich ist dazu auch das zweite Kapitel
des MMK über den Prozess des Gehens und der Bewegung für Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft. Denn ein Geher auf dem buddhistischen Weg, der sich einbildet
zu gehen, aber in Wirklichkeit steht oder
liegt, ist kein Geher. Kennen Sie
so jemanden?
Auch in diesem Kapitel geht es um die
Veränderungen: Entstehen, Andauern und Vergehen bei prozesshaften Entwicklungen.
Damit zielt Nagarjuna auf die zentralen Lehren Buddhas: die Vier Edlen
Wahrheiten des Leidens und dessen Entstehen und Aufhebung sowie den Achtfacher
Pfad in der Praxis unseres Lebens.
In Buddhas sutta „Grundlagen der Achtsamkeit“
heißt es zur Achtsamkeit wiederholt,
dass wir das Entstehen, Andauern und Vergehen von Gedanken und Gefühlen genau beobachten und analysieren sollen[1].
Dort wird zum Bereich des Erwachens gesagt:
„Da erkennt ein Mönch, wenn in ihm das Glied des
Erwachens der Achtsamkeit, da ist. In mir ist das Glied des Erwachens der
Achtsamkeit da.“
Zur
Umkehrung wird gesagt, wann die Achtsamkeit nicht
da ist. Wie entsteht nun die Achtsamkeit des Erwachens? Wir erkennen, dass
das noch
„unentstandene Glied des Erwachens, der
Achtsamkeit, entsteht.“
Schließlich
heißt es, dass diese Achtsamkeit als Teil des Erwachens
„sich
völlig entfaltet, auch das erkennt
er“.
Zur
Freude als Teil des Erwachens heißt
es:
„Da erkennt ein Mönch, wenn in ihm das
Glied des Erwachens der Freude da ist“
Und weiter wie wir erkennen, dass das noch “unentstandene
Glied des Erwachens Freude entsteht und sich völlig entfaltet, auch das erkennt
er“.
Über
den Prozess der Selbsterkenntnis, der am Anfang des Weges steht, auf dem man
die Hemmnisse des Erwachens
überwindet, wiederholt Buddha:
„Geistige Gegebenheiten sind da, so ist seine
Achtsamkeit gegenwärtig, soweit sie eben dem Wissen dient, soweit es der
Achtsamkeit dient. Unabhängig lebt er, und er haftet an nichts in der Welt.“
Buddha beschreibt auf diese Weise u. a. die sieben
Glieder der Erleuchtung und die fünf Hemmnisse auf dem Weg des Erwachens. Bei den Hemmnissen geht es natürlich
vor allem darum, dass sie klar erkannt werden und wie sie vergehen.
Bei uns entstehen leider immer wieder
unreflektiert Affekte, extreme Gefühle, Erregungen und bohrende Gedanken. Wir
werden durch sie dann nicht fixiert,
wenn sie durch die buddhistische Praxis erkannt werden und wenn sie also vergehen.
Hierbei handelt es sich grundsätzlich um ein zeitliches und verbundenes Nacheinander, das vereinfachend in die
drei Bereiche Entstehen, Bestehen und Da-Sein
sowie Vergehen gegliedert werden kann. Dabei muss nach Nagarjuna beachtet
werden, dass es sich in der beobachtbaren Wirklichkeit nicht um getrennte und isolierte Abschnitte oder
Entitäten handelt, sondern dass ein kontinuierlicher Zusammenhang besteht.
Da der Buddhismus den prozesshaften Veränderungen
als Entstehen und Vergehen beim Menschen zentrale Bedeutung gibt, leuchtet es
ein, dass diese Frage sehr genau untersucht werden muss, um
Fehlinterpretationen, substanzhafte falsche
Doktrinen und falsche Verdinglichungen zu vermeiden.
Die Präambel des MMK spricht vom Prozess des gemeinsamen Entstehens in der
Wirklichkeit, dessen Verständnis, wie „wegführende
Fehlentwicklungen“ zur Ruhe kommen können.
Es ist in der Geschichte des Buddhismus leider nicht
ausgeblieben, dass tief greifende Missverständnisse und Irrlehren entstanden
sind, die in diesem Kapitel von Nagarjuna radikal destruiert und richtig
gestellt werden: Vor Allem falsifiziert er unveränderliche
abgegrenzte Dharmas mit ebenfalls unveränderlichen
abgegrenzten Merkmalen des Entstehens, Andauerns und Vergehens. Dabei
werden also sogar diese Merkmale als eigenständige
isolierte Entitäten verstanden, sie haben Ähnlichkeiten mit isolierten
Atome der Welt.
Es leuchtet ein, dass dann menschliche
Entwicklungs-Prozesse der Überwindung des Leidens und der Emanzipation zur
Erleuchtung nicht sinnvoll erklärt werden können. Und damit sind wir beim Thema
dieses Kapitels für Prozesse der Veränderung.
Die Semantik der Dharmas ist für uns westliche
Menschen nicht einfach zu verstehen. Eine direkte Übersetzung ist „Dinge und Phänomene“, die Nishijima
Roshi gern verwendete. Dabei benennen die Dinge eher einen statischen Aspekt, während
Phänomene nicht zuletzt prozesshafte Eigenschaften
haben.
Durch die Kombination und Zusammenfügen dieser Dharmas
solle die Vielfalt Welt entstehen, dies charakterisiert gleichzeitig die vorbuddhistische Philosophie in Indien.
Wie wir heute allerdings wissen, ist diese Annahme physikalisch und chemisch
nicht einmal für Atome haltbar, da im subatomaren Bereich weitere
Teilungsmöglichkeiten möglich sind. Wie viel weniger ist eine solche Doktrin
für lebende Prozesse der Wechselwirkung haltbar.
Bei Buddha geht es hauptsächlich um
Veränderungs-Prozesse, so dass das Modell unteilbarer kleiner Einheiten und
Atome nicht sinnvoll ist. Denn dann könnten Veränderungen und positive
Entwicklungen nicht angemessen erklärt werden.
Für den Menschen, der nach buddhistischer
Vorstellung aus fünf Komponenten (skandhas) besteht und keine isolierte
Ich-Substanz oder -Essenz im Sinne der alten vorbuddhistischen Lehre des âtman
hat, gilt es die Möglichkeiten zu nutzen, um Erstarrungen und Vorurteile zu
überwinden, die eine Weiterentwicklung erschweren oder gänzlich unmöglich
machen.
Nâgârjuna behandelt in diesem Kapitel m. E. in
besonders präziser Weise eine solche unbrauchbare Weltanschauung von
unveränderlichen Entitäten für Merkmale, die im Gegensatz zu Prozessen und
zeitlichen Verläufen stehen. Dazu gehören die Doktrin der unveränderlichen
Substanz der Dharmas der Sarvastivadins
und die Doktrin der zeitlich total
isolierten Ereignisse der Sautrantika. Diese sollen aus dem Nichts
plötzlich entstehen und dann genau so plötzlich wieder verschwinden. Auch eine
solche Doktrin von Entstehen und Vergehen ist nach Nagarjuna fundamental
falsch.
Ein markantes Beispiel für Entstehen, Andauern und
Vergehen ist der menschliche Dialog zu einem bestimmten Thema. Er entsteht
durch den Beginn des Gesprächs, dauert eine Zeit lang an und ist dabei mehr
oder minder fruchtbar, kreativ und läuft dann aus, zum Beispiel wenn die beiden
Menschen auseinander gehen oder ein anderes Thema ansprechen.
Der Prozess des Entstehens, Andauerns und
Vergehens kann auch recht genau bei unseren Gefühlen beobachtet werden. Es ist
ein Hauptanliegen des Buddhismus, vergiftende Gefühle wie Gier, Neid und Hass
entweder gar nicht erst entstehen oder zur Ruhe kommen zu lassen, wenn sie
bereits entstanden sind.
Gautama Buddha beschreibt bewährte Möglichkeiten,
wie derartige negative Emotionen gar nicht erst entstehen oder so frühzeitig
erkannt werden, dass man gegensteuert und sie psychisch unwirksam werden. Er
beschreibt auch die positiven Gefühle in analoger Weise und sagt zum Beispiel,
dass liebevolle Zuwendung entstehen soll und wir genau beobachten, dass solche
Gefühle in uns da sind und sich lebendig entwickeln.
Die moderne Gehirnforschung sagt kurz gefasst:
„Das Gehirn ist genau das, was es macht“.
Wenn wir also positive Gefühle und Gedanken entstehen lassen und pflegen, wird
unser Gehirn in dieser Weise gebahnt und ist für weitere Assoziationen,
kreative Gedanken und Gefühle entsprechend vorgebahnt tätig. Gefühle und
Gedanken sind dabei miteinander eng gekoppelt und treten gemeinsam auf. Es gibt
also eine intensive Wechselwirkung in unserem neuronalen Netz für Gefühle und
Gedanken.
Nâgârjuna destruiert in diesem Kapitel eine
verfestigte und erstarrte Weltanschauung von isolierten Entitäten oder
isolierter „Zeit-Atome“, die zusammenhängende Werdens-Prozesse nicht
beschreiben können und damit den Befreiungs-Prozess blockieren. Fließende
psychische Entwicklungs-Prozesse dürfen nicht „zerhackt“ werden, die wie getrennte
Entitäten in isolierte Teile des Entstehen, Bestehens und Vergehen verstanden
werden. Schließlich sei noch erwähnt,
dass auch materielle Gegenstände bestimmte Veränderungs-Prozesse durchlaufen,
obgleich das nicht immer leicht erkennbar ist, da sie z. T. sehr viel mehr Zeit
benötigen.
Der Vorgang von Veränderung
der Dharmas wird nach den unrichtigen Doktrinen daher in drei statische Merkmale
unterteilt. Diese so geglaubten und gedachten Merkmale sind danach abgegrenzte
absolute Entitäten. Wie ist dieser Glaube nun mit den Prozessen des Entstehens,
Andauerns und Vergehens nach Buddhas authentischer Lehre in Einklang zu
bringen?
Es besteht gerade ein
unüberwindlicher Widerspruch, der zur Falsifizierung dieser Doktrin der
Sarvastivadins führen muss. Es liegt auf der Hand, dass auf jeden Fall große
Probleme auftauchen, um die empirischen und phänomenologischen zusammenhängenden
Prozesse von Veränderungen damit widerspruchsfrei zu erklären.
Genau diese Fragen mit den
in sich widersprechenden Schlussfolgerungen klärt Nagarjuna. Denn nach diesen
Doktrinen haben die drei Merkmale der zusammengesetzten Dharmas: Entstehen,
Andauern und Vergehen jeweils einen
unveränderlichen eigenständigen und unzerstörbaren Kern. Den Anhängern dieser
Lehre waren offensichtlich die unlösbaren Widersprüche zur authentischen
buddhistischen Lehre wenig bewusst. Ich folge Nagarjuna, dass bei solchen
metapysischen ja magischen Annahmen die Lehre
Buddhas für die Befreiung und Emanzipation nicht mehr stimmig ist.
Nagarjunas Auflösung der gravierenden Widersprüche
und Halbwahrheiten der beiden genannten Sekten basiert auf Buddhas Verständnis
der Wirklichkeit als gemeinsames
Entstehen in Wechsel-Wirkung (pratitya
samutpada). Im dem maßgeblichen Vers dieses Kapitels heißt es:
„Was auch
immer in Wechsel-Wirkung wird und entsteht, das ist beruhigt und im
Gleichgewicht.“
Damit
ist auch gesagt, dass die beiden obigen Doktrinen kein Gleichgewicht des
Menschen bewirken, sondern im Gegenteil zu Unruhe, Zerrissenheit, Leiden,
Vereinsamung und Depression führen.
Nagarjuna bekräftigt mit
seiner Argumentation die suttas der frühen buddhistischen Lehre, bei denen es um
tief greifende nachhaltige positive Veränderungen und Weiterentwicklungen beim
Menschen und in der Welt geht: das Entstehen und die Überwindung des
Leidens-Prozesses sowie die Befreiung, Emanzipation und schließlich das Erwachen.
Buddha begnügt sich bei seiner realistischen Weisheits-Lehre nicht mit der
reinen Erkenntnis, sondern lehrt ganz praktisch ganzheitliche und wirkungsvolle
Befreiungs- und Emanzipations-Prozesse des Menschen: Die Ablehnung von absoluten
Extremen, die ideologiefreie Lehre von Kausalität und Verursachung und nicht
zuletzt eine praktikable Ethik, die verlässliche Grundlage des Lebens bietet.
Ergebnis:
Es gibt nicht drei isolierte Teile von Entstehen,
Andauern und Vergehen in der wirklichen dynamischen und prozesshaften Welt.
Eine solche falsche Doktrin setzt substanzhafte unveränderliche und isolierte
Entitäten voraus, wie dies von der "buddhistische" Sekte der Sarvastivadins behauptet wurde. Auch
heute gibt es derartige Anschauungen, denn die Sehnsucht nach Ewigkeit und
Dauerhaftigkeit verführt dazu, die Wirklichkeit nach unseren Wünschen zu verzerren.
Daraus ergibt sich z. B. auch die falsche Aussage, dass für den Buddhismus Nicht-Entstehen wahr sei. Auch heute
kann man so etwas manchmal in buddhistischen Kreisen hören, und nicht nur der
darauf beruhende extreme Fundamentalismus
schafft genau das Gegenteil: Starrheit, Rücksichtslosigkeit und Intoleranz.
Der Prozess des Entstehens, Andauerns und Vergehen
kann auch nicht von der entgegen gesetzten Doktrin für getrennte „Zeit-Atome“
oder unverbundene zeitliche Ereignisse sinnvoll verstanden werden. Dies ist die
Doktrin der Sautrantikas, die eine Kette von unverbundenen Ereignissen
behaupten, die trotzdem irgendwie metaphysisch verbunden sind. In beiden Fällen
gibt es gerade nicht etwas Zusammengefügtes
der obigen drei Teile. Warum denn auch fließende dynamische Prozesse zerteilen?
Im Gegensatz dazu gibt es im Leben und in der Welt
das gemeinsamen Entstehen und Vergehen in
Wechselwirkung, das sind vernetzte und zusammenhängende Prozesse von
Entstehen, Andauern und Vergehen in handelnder Verantwortung.
Diese Aussage ist von größter Bedeutung für alle
Veränderungs- Lern- und Emanzipations-Prozesse und damit für unsere Befreiung
aus dem Leiden des Lebens und für unsere prozesshafte Erleuchtung im Alltag.
[1] Vergl.:
Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17 ff., Sutta
Grundlagen der Achtsamkeit