Donnerstag, 21. Dezember 2017

Rad und Nabe des Dao: Dynamik des Lebens oder falsche Leerheit?



Für diesen nicht leicht verständliche Text bitte ich um Nachsicht. Ich bin allerdings davon überzeugt, das es sich lohnt, ihn zu analysieren. Besonders lohnend für Experten!

Der Chan-Buddhismus im China der Tang-Zeit hat sich auf der Grundlage der großen Philosophie des Dao De Jing entwickeln können: Zwei epochale Kulturströmungen sind sich im China ab dem vierten Jahrhundert begegnet und in außerordentlich fruchtbare Wechselwirkungen eingetreten. Diese Entwicklungen hält nicht zuletzt durch die Werke Dogens im Zen bis heute an und hat den Westen nunmehr voll erreicht.

Der Einfluss des Mittleren Weges von Nagarjuna, ein Höhepunkt buddhistischer Philosophie, ist im Chan-Buddhismus unverkennbar und für mich auch bei Dogen markant. Vereinfacht kann man sagen, dass sich die z. T. metaphysischen und rational schwer fassbaren tiefen und poetischen Weisheiten des Daoismus mit der pragmatischen und präzisen Philosophie des Buddhismus verbunden haben: Ein kraftvoller ja explosiver neuer Kulturstrom auf der Suche nach Wahrheit und Wirklichkeit für die Befreiung des Menschen. Der Chan und der Zen haben immer die Bodenhaftung des realen Lebens bewahrt:

"Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen".

Das ist die Alltags-Erleuchtung, die wir im Zeitalter überbordenden digitaler virtueller Schein-Wirklichkeiten und allgegenwärtiger fake news dringend benötigen. Was ist wirkungsvoller gegen Stress, Daddeln im Netz und unsinniges Multitasking als die Meditation des Zazen, die Kunst des Bogenschießens, die Bambus-Meditationsflöte Shakuhachi oder andere Zen-Künste?

Zum Dao De Jing, im Kapitel 11 heißt es:

"Dreißig Speichen umringen die Nabe,
wo nichts ist,
liegt der Nutzen des Rades[1]"

Die Formulierung "wo nichts ist" wird meist als das Nichts oder auch als Leerheit, interpretiert. So schreibt der bekannte Psychotherapeut und Zen-Lehrer Graf Dürckheim, dass er beim Lesen dieser Zeilen des Nichts und der Leerheit die Erleuchtung erlangt habe. Aber um welche Leerheit handelt es sich eigentlich? Was schreibt dazu der große buddhistische Meister Nagarjuna in seinem berühmten epochalen Werk des Mittleren Weges (MMK) zur Leerheit? Denn zweifellos ist er der wichtigste Autor zur Leerheit und darf bei deren Interpretation auf keinen Fall beiseite gelassen werden.

Ich möchte daher die Untersuchung der obigen Zeilen des Dao mit dem Verständnis Nagarjunas vornehmen, gewissermaßen den Philosophen Lao-tzi mit den Auge und dem Geist des  Buddhisten Nagarjuna lesen. Es ist m. E. kaum anders möglich, den frühen Chan-Buddhismus auf diese Weise zu interpretieren.
Im Mittleren Weg (MMK) heißt es:

Die Leerheit ist die Bezeichnung des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung (pratitya samutpada).[2]

Diese Wechselwirkung sei das Reale, wenn es ohne wegführende Verwirrungen und Doktrinen verstanden und erfahren werde. Dabei ist die Doktrin des Substantivismus besonders irreführend, denn sie behauptet eine meist unsichtbare Substanz, die ewig und unveränderlich sei. Das ist eine fatale Verdrehung des authentischen Buddhismus, der sagt: Alles wandelt und verändert sich, es entsteht und vergeht. Dieser Aussage folge ich.

Die Doktrin des Substantivismus basiert auf der Behauptung der absoluten Existenz oder Nicht-Existenz oder dem Nichts. Das ist aber gerade nicht die Leerheit Nagarjunas, sondern wird von ihm konsequent destruiert. Die Leerheit ist damit das Wirkliche. Im Gegensatz dazu ist die Nicht-Leerheit genau Fiktion und Täuschung. Das klingt sicher gewöhnungsbedürftig. Leerheit bedeutet: Ohne die Fiktion oder Doktrin einer metaphysischen inneren ewigen und unveränderlichen Substanz, die im übrigen alle Befreiungs- und Emanzipations-Prozesse des Menschen unmöglich machen würde.

Der Sinn und Nutzen des Wagens ist Bewegung und Transport von Menschen und Waren. Er benötigt als Ganzheit mindestens zwei sich drehende Räder, nur dann ist er real und damit leer. Die Räder sitzen mit ihrer Nabe auf der Achse, Nabe und Achse sind leer also real, wenn sie ordentlich verbunden sind und funktionieren.
Ein Rad als getrennte und abmontierte Entität macht keine Sinn, es ist funktionslos und nicht-leer und damit nicht real. Es existiert dann als nicht-leeres materielles Ding oder als nicht-leere Idee. Ein sich nicht drehendes Rad gibt es also nach Definition und Funktion in der Wirklichkeit nicht, so wenig wie es einen nicht gehenden Geher gibt[3]

Der sich bewegende Wagen mit sich drehenden Rädern ist gleichzeitig Metapher der Befreiung und Emanzipation des Menschen. Ein stehender Wagen bedeutet Stillstand der Befreiung. Ein einzelnes abmontiertes Rad bedeutet Destruktion, Vereinzelung, Sinnlosigkeit, Funktionslosigkeit, fehlende Dynamik und Leblosigkeit des Menschen. Das Rad kann sich vorwärts bewegen, aber nur wenn es Teil des fahrenden Wagens ist. Es ist sinnlos darüber zu spekulieren, was des Wesen oder die ewige Substanz eines abmontierten Rades sei. Buddha würde eine solche statische Ding-Metaphorik schlicht unbearbeitet beiseite lassen.

Die gleiche Argumentation gilt im Kapitel 11 des Dao-te-king für einen Topf ohne Benutzung und Inhalt und für ein Haus ohne Türen und Fenster, da es nicht benutzbar zum Leben und ohne Sinn ist.

Zu Kap. 40 des Dao-te-king:
Dieses offensichtlich zentrale Kapitel betrifft aus meiner Sicht zugleich das Werden als Bewegung, Dynamik und Leben (z. B. neuronales Netz des Gehirns und Ökosysteme) als auch das Gleichgewicht von Sein und Seiendem der Dinge und Phänomene. Diesen beiden Aspekte sind auch sinnvoll, um die unendliche niemals erfassbare Komplexität der Welt "handhabbar" zu machen, also sinnvoll zu reduzieren.

Die Philosophie des Seins und Seiendes, auch wenn man versucht sie existentiell "aufzuladen", bringt allein ohne die Veränderung des Werdens dabei nicht viel. Ohne den Ansatz des Werdens kommt man nicht weiter. Das ist auch die Bedeutung der rückgekoppelten Prozesse von pratitya samutpada, also der Leerheit der Wechselwirkung. Leerheit ist also nicht zuletzt durch die Freiheit des Entstehens und Werdens gekennzeichnet, und d. h. gleichzeitig das "Ohne-Sein" des Zen von Gier, Hass und Verblendung durch Ideologien und andere Extreme.

Den Zustand des Seienden und Seins nach westlicher Philosophie gibt es m. E. in einem Augenblick der dynamischen Vernetzung. Das Sein kann daher in der Wirklichkeit nicht ewig sein, es kann nur als absolute Idee des Menschen ewig sein. Die unendliche Komplexität bleibt Geheimnis, weil sie kein Mensch vollständig erfassen kann. Wer das anerkennt, kann freier leben. Und niemand ist allwissend, auch und gerade nicht der Mensch Buddha.

Dao als Gesetz oder Wahrheit der Welt hat also die Qualität von Sein-Werden. Ein isoliertes Sein oder Nicht-Sein kann nicht beobachtet werden. Die Semantik von statischem Sein und Nicht-Sein, insbesondere in Form von Absolutheit , bringt daher wenig für unser Welt-Verständnis und unsere Emanzipation. Darüber hinaus kann allerdings sinnvoll das Nicht-Sein und Nicht-Seiendes nur als Veränderung und Dynamik verstanden werden, nämlich nicht die Sichtweise des Statischen. Dynamik hat dabei Priorität, weil sich alles andauernd verändert und nichts statisch ist. Wir können in den Flow kommen und uns dabei gründlich verändern: Das ist die menschliche Transformation im Buddhismus.

Diese Fakten werden besonders klar beim neuronalen Netz, unseres Organs das Geistes: Es verändert sich ohne Unterbrechung und bildet und verändert laufen Synapsen und Nervenfasern, es ist niemals statisch und unverändert. Es gibt auch keine unveränderlich gespeicherten Infos im Gehirn, so sehr das ein alter Menschheits-Traum sein mag.

Werden und Sein sind zwei "Gesichter" der wirklichen Welt und bedingen sich wechselseitig. Es gibt kein Sein ohne Werden und kein Werden ohne Sein.

Damit kann Kap. 40 des Dao-te-king relativ leicht entschlüsselt werden:
Aus dem Werden, der Dynamik, also der Nicht-Statik, dem Nicht-Sein entsteht der Zustand des stabilen Seins und umgekehrt. Dies ist ein fortlaufender rückgekoppelter und vernetzter Prozess. Diese Seiende des Seins lässt alle Dinge und Phänomene erscheinen.

Eine solche Bewegung des Dao kann als Rückkehr und Rückkoppelung verstanden werden. Da diese Prozesse und Zustände natürlich sind, benötigen sie keine zusätzlichen antreibenden Kräfte, Insofern sind sie schwach und im Gleichgewicht.

Insgesamt erscheint mir manches beim Dao, soweit ich es verstehe, mythisch, philosophisch sprunghaft und vor-vernünftig aber von tiefer Poesie. Es bedurfte daher einer deutliche Fundierung durch den vernünftigen Buddhismus, um Chan und Zen zu entwickeln. Dazu eignet sich m. E. besonders der frühe Buddhismus und Madyamika des Mittleren Weges.





[1] Lao.tse: Tao-te-king, Übersetzung Schwarz, Ernst, Kösel-Verlag,1995
[2] Nagarjuna: Mittlerer Weg, Kap. 24.18 u. 19
[3]Nagarjuna: Mittlerer Weg, Kap. 2