Für diesen nicht leicht
verständliche Text bitte ich um Nachsicht. Ich bin allerdings davon überzeugt,
das es sich lohnt, ihn zu analysieren. Besonders lohnend für Experten!
Der Chan-Buddhismus im China
der Tang-Zeit hat sich auf der Grundlage der großen Philosophie des Dao De Jing
entwickeln können: Zwei epochale Kulturströmungen sind sich im China ab dem
vierten Jahrhundert begegnet und in außerordentlich fruchtbare Wechselwirkungen
eingetreten. Diese Entwicklungen hält nicht zuletzt durch die Werke Dogens im
Zen bis heute an und hat den Westen nunmehr voll erreicht.
Der Einfluss des Mittleren
Weges von Nagarjuna, ein Höhepunkt buddhistischer Philosophie, ist im
Chan-Buddhismus unverkennbar und für mich auch bei Dogen markant. Vereinfacht
kann man sagen, dass sich die z. T. metaphysischen und rational schwer fassbaren tiefen
und poetischen Weisheiten des Daoismus mit der pragmatischen und präzisen
Philosophie des Buddhismus verbunden haben: Ein kraftvoller ja explosiver neuer
Kulturstrom auf der Suche nach Wahrheit und Wirklichkeit für die Befreiung des
Menschen. Der Chan und der Zen haben immer die Bodenhaftung des realen Lebens
bewahrt:
"Erleuchtung ist Feuerholz tragen
und Wasser schöpfen".
Das ist die
Alltags-Erleuchtung, die wir im Zeitalter überbordenden digitaler virtueller
Schein-Wirklichkeiten und allgegenwärtiger fake news dringend benötigen. Was ist
wirkungsvoller gegen Stress, Daddeln im Netz und unsinniges Multitasking als
die Meditation des Zazen, die Kunst des Bogenschießens, die
Bambus-Meditationsflöte Shakuhachi oder andere Zen-Künste?
Zum Dao De Jing, im Kapitel 11 heißt es:
"Dreißig Speichen umringen die
Nabe,
wo nichts ist,
liegt der Nutzen des Rades[1]"
Die Formulierung "wo
nichts ist" wird meist als das Nichts
oder auch als Leerheit,
interpretiert. So schreibt der bekannte Psychotherapeut und Zen-Lehrer Graf
Dürckheim, dass er beim Lesen dieser Zeilen des Nichts und der Leerheit die
Erleuchtung erlangt habe. Aber um welche Leerheit handelt es sich eigentlich?
Was schreibt dazu der große buddhistische Meister Nagarjuna in seinem berühmten
epochalen Werk des Mittleren Weges (MMK) zur Leerheit? Denn zweifellos ist er
der wichtigste Autor zur Leerheit und darf bei deren Interpretation auf keinen
Fall beiseite gelassen werden.
Ich möchte daher die
Untersuchung der obigen Zeilen des Dao mit dem Verständnis Nagarjunas
vornehmen, gewissermaßen den Philosophen Lao-tzi mit den Auge und dem Geist des
Buddhisten Nagarjuna lesen. Es ist m. E.
kaum anders möglich, den frühen Chan-Buddhismus auf diese Weise zu
interpretieren.
Im Mittleren Weg (MMK) heißt
es:
Die Leerheit ist die Bezeichnung des
gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung (pratitya samutpada).[2]
Diese Wechselwirkung sei das
Reale, wenn es ohne wegführende Verwirrungen und Doktrinen verstanden und
erfahren werde. Dabei ist die Doktrin des Substantivismus besonders
irreführend, denn sie behauptet eine meist unsichtbare Substanz, die ewig und
unveränderlich sei. Das ist eine fatale Verdrehung des authentischen Buddhismus,
der sagt: Alles wandelt und verändert sich, es entsteht und vergeht. Dieser
Aussage folge ich.
Die Doktrin des
Substantivismus basiert auf der Behauptung der absoluten Existenz oder Nicht-Existenz
oder dem Nichts. Das ist aber gerade nicht die Leerheit Nagarjunas, sondern
wird von ihm konsequent destruiert. Die Leerheit ist damit das Wirkliche. Im
Gegensatz dazu ist die Nicht-Leerheit genau Fiktion und Täuschung. Das klingt
sicher gewöhnungsbedürftig. Leerheit bedeutet: Ohne die Fiktion oder Doktrin
einer metaphysischen inneren ewigen und unveränderlichen Substanz, die im
übrigen alle Befreiungs- und Emanzipations-Prozesse des Menschen unmöglich machen würde.
Der Sinn und Nutzen des
Wagens ist Bewegung und Transport von
Menschen und Waren. Er benötigt als Ganzheit mindestens zwei sich drehende Räder, nur dann ist er real und damit leer. Die
Räder sitzen mit ihrer Nabe auf der Achse, Nabe und Achse sind leer also real,
wenn sie ordentlich verbunden sind und funktionieren.
Ein Rad als getrennte und
abmontierte Entität macht keine Sinn, es ist funktionslos und nicht-leer und
damit nicht real. Es existiert dann als nicht-leeres materielles Ding oder als
nicht-leere Idee. Ein sich nicht drehendes
Rad gibt es also nach Definition und Funktion in der Wirklichkeit nicht, so
wenig wie es einen nicht gehenden Geher gibt[3]
Der sich bewegende Wagen mit
sich drehenden Rädern ist gleichzeitig Metapher der Befreiung und Emanzipation des Menschen. Ein stehender Wagen
bedeutet Stillstand der Befreiung. Ein einzelnes abmontiertes Rad bedeutet
Destruktion, Vereinzelung, Sinnlosigkeit, Funktionslosigkeit, fehlende Dynamik
und Leblosigkeit des Menschen. Das Rad kann sich vorwärts bewegen, aber nur
wenn es Teil des fahrenden Wagens ist. Es ist sinnlos darüber zu spekulieren,
was des Wesen oder die ewige Substanz eines abmontierten Rades sei. Buddha
würde eine solche statische Ding-Metaphorik schlicht unbearbeitet beiseite
lassen.
Die gleiche Argumentation
gilt im Kapitel 11 des Dao-te-king für einen Topf ohne Benutzung und Inhalt und
für ein Haus ohne Türen und Fenster, da es nicht benutzbar zum Leben und ohne
Sinn ist.
Zu Kap. 40 des Dao-te-king:
Dieses offensichtlich
zentrale Kapitel betrifft aus meiner Sicht zugleich das Werden als Bewegung, Dynamik und Leben (z. B. neuronales Netz des
Gehirns und Ökosysteme) als auch das Gleichgewicht von Sein und Seiendem der Dinge und Phänomene. Diesen beiden Aspekte sind
auch sinnvoll, um die unendliche niemals erfassbare Komplexität der Welt
"handhabbar" zu machen, also sinnvoll zu reduzieren.
Die Philosophie des Seins und
Seiendes, auch wenn man versucht sie existentiell "aufzuladen",
bringt allein ohne die Veränderung des Werdens dabei nicht viel. Ohne den Ansatz des
Werdens kommt man nicht weiter. Das ist auch die Bedeutung der rückgekoppelten
Prozesse von pratitya samutpada, also der Leerheit der Wechselwirkung. Leerheit
ist also nicht zuletzt durch die Freiheit
des Entstehens und Werdens gekennzeichnet, und d. h. gleichzeitig das
"Ohne-Sein" des Zen von Gier, Hass und Verblendung durch Ideologien
und andere Extreme.
Den Zustand des Seienden und
Seins nach westlicher Philosophie gibt es m. E. in einem Augenblick der dynamischen Vernetzung. Das Sein kann daher in der
Wirklichkeit nicht ewig sein, es kann nur als absolute Idee des Menschen ewig sein. Die unendliche Komplexität
bleibt Geheimnis, weil sie kein Mensch vollständig erfassen kann. Wer das
anerkennt, kann freier leben. Und niemand ist allwissend, auch und gerade nicht
der Mensch Buddha.
Dao als Gesetz oder Wahrheit
der Welt hat also die Qualität von Sein-Werden.
Ein isoliertes Sein oder Nicht-Sein kann nicht beobachtet werden. Die Semantik
von statischem Sein und Nicht-Sein, insbesondere in Form von Absolutheit ,
bringt daher wenig für unser Welt-Verständnis und unsere Emanzipation. Darüber
hinaus kann allerdings sinnvoll das Nicht-Sein und Nicht-Seiendes nur als
Veränderung und Dynamik verstanden werden, nämlich nicht die Sichtweise des
Statischen. Dynamik hat dabei Priorität, weil sich alles andauernd verändert
und nichts statisch ist. Wir können in den Flow kommen und uns dabei gründlich
verändern: Das ist die menschliche Transformation im Buddhismus.
Diese Fakten werden besonders klar beim
neuronalen Netz, unseres Organs das Geistes: Es verändert sich ohne
Unterbrechung und bildet und verändert laufen Synapsen und Nervenfasern, es ist
niemals statisch und unverändert. Es gibt auch keine unveränderlich
gespeicherten Infos im Gehirn, so sehr das ein alter Menschheits-Traum sein
mag.
Werden und Sein sind zwei
"Gesichter" der wirklichen Welt und bedingen sich wechselseitig. Es
gibt kein Sein ohne Werden und kein Werden ohne Sein.
Damit kann Kap. 40 des Dao-te-king relativ leicht
entschlüsselt werden:
Aus dem Werden, der Dynamik,
also der Nicht-Statik, dem Nicht-Sein entsteht der Zustand des stabilen Seins
und umgekehrt. Dies ist ein fortlaufender rückgekoppelter und vernetzter
Prozess. Diese Seiende des Seins lässt alle Dinge und Phänomene erscheinen.
Eine solche Bewegung des Dao
kann als Rückkehr und Rückkoppelung verstanden werden. Da diese Prozesse und
Zustände natürlich sind, benötigen sie keine zusätzlichen antreibenden Kräfte,
Insofern sind sie schwach und im Gleichgewicht.
Insgesamt erscheint mir
manches beim Dao, soweit ich es verstehe, mythisch, philosophisch sprunghaft und
vor-vernünftig aber von tiefer Poesie. Es bedurfte daher einer deutliche Fundierung durch den vernünftigen Buddhismus, um Chan und Zen zu entwickeln.
Dazu eignet sich m. E. besonders der frühe Buddhismus und Madyamika des
Mittleren Weges.