Die authentische Lehre war
in Indien im Verlauf von etwa 600 Jahren nach Buddha durch verschiedene, zum
Teil hoch komplexe Philosophien verfremdet und durch dogmatische Sekten und
Ideologien verzerrt worden. Zudem hatte die vorbuddhistische Glaubensreligion
des Brahmanismus neue Kraft und Verbreitung in der Bevölkerung erlangt und
drängte den Buddhismus als Volksglauben zurück. Diese Tendenz verstärkte sich
in den folgenden Jahrhunderten immer weiter. Dabei wurden Teilbereiche der
buddhistischen Weisheitslehre vom sich entwickelnden Hinduismus durchaus
übernommen.
Nishijima Roshi
Viele Kapitel des MMK dienen dem Ziel der Destruktion irreführender philosophischer Meinungen, Ideologien und falscher Lehrtraditionen wie dem Substantialismus und Momentanismus. Es ist spannend zu beobachten, dass alte Weltanschauungen und Vorstellungen aus der vorbuddhistischen Zeit unter dem Deckmantel buddhistischer Schlüsselbegriffe oft unbemerkt wieder auftauchten.[iii] Diese doktrinäre Verwendung von Begriffen hatte Buddha aber gerade als unheilsam abgelehnt. Ähnliche Fehlentwicklungen sind leider mehr oder weniger bei vielen Religionen und großen Weisheitslehren zu beobachten: Nach einer fruchtbaren Zeit werden zunehmend alte, bequemere oder romantisierende Ideen von Populisten unter Begriffe subsumiert, die ursprünglich von dem großen Weisheitslehrer neu eingeführt und mit Leben erfüllt worden waren, um das alte beengende Denken und den festgefahrenen Geist zu überwinden.
In
den letzten, umfangreichen Kapiteln des MMK – Buddha Tathāgata, Die Vier Edlen Wahrheiten, Nirvāna und die Befreiung
und Emanzipation des Menschen in Zwölf Phasen – bezieht sich Nāgārjuna noch
einmal ausführlich auf die authentische Lehre Buddhas, die er schon in der
Präambel kurz behandelt hat. Im Kapitel über das Nirvāna und die Befreiung
befasst er sich mit einigen Sichtweisen und Konzepten von der falsch
verstandenen Wiedergeburt und Ontologie der Welt, die auch Buddha abgelehnt
hat.
An dieser Stelle möchte ich
einige Überlegungen zum Verhältnis zwischen westlichen philosophischen Ansätzen
und der Lehre Gautama Buddhas vorstellen. Seit
der Antike bis zu den neueren Philosophen stehen die ontologischen Fragen „Was
ist?“ oder „Was existiert?“ im
Mittelpunkt philosophischer Arbeit und Analyse.[iv] Die
umgekehrte Aussage und Negation lautet folglich: „Was ist nicht?“ oder „Was
existiert nicht?“. Diese Gegensatzpaare kann man als das exklusive Entweder-Oder der Dichotomie oder als Satz vom
ausgeschlossenen Dritten verstehen, was nach
dieser Philosophie die wesentliche Grundlage der Reflexion über die Welt sei
und sein müsse.
So ist Platon von
unveränderlichen ewigen Ur-Ideen
ausgegangen, die schon immer in der Welt seien, an denen der Mensch mehr oder
weniger teilnehmen könne und dadurch einen höheren oder niederen Zustand des
Lebens erreiche.[v]
Aber wie diese Entwicklungsprozesse ablaufen könnten, wird kaum behandelt.
Platons metaphysische und spekulative Ideen werden als selbstständige,
unabhängige und unveränderliche Entitäten in der Welt angesehen und bilden das
philosophische Muster des Seins der Welt und des Lebens. Sie sind jenseits der
empirischen und phänomenologischen Forschung und Erkenntnis und werden daher
„metaphysisch“ genannt. Kurz gesagt bedeutet das, dass die Ontologie dieser
Philosophie davon ausgeht, dass es metaphysische
unveränderliche Entitäten oder Eigen-Substanzen gibt, die hinter oder besser gesagt über den konkreten dinglichen Realitäten
existieren. Die dinghafte Realität wird hierbei als das Seiende bezeichnet. Dementsprechend könne man die Erscheinungen des
Seienden wahrnehmen und untersuchen, während sich das Sein als solches der konkreten Analyse entziehe und hinter den Gegebenheiten angenommen
wird.
Schon Heraklit[vi]
hatte im Gegensatz dazu erklärt, dass es nicht nur das einzig Richtige oder Falsche gebe, sondern auch dazwischenliegende Varianten wie
teilweise richtig und teilweise falsch. Dies gelte vor allem für Prozesse,
Bewegungen und Veränderungen. Eine statische Ontologie ist auch aus meiner
Sicht für die Beschreibung und Analyse dynamischer Prozesse, wie zum Beispiel
der Entwicklung und Emanzipation des Menschen im Buddhismus, weniger geeignet.
Wie der moderne französische
Philosoph Jacques Derrida erklärt,
ist unsere Sprache auf das Grundmodell
von Dingen, Entitäten und Substanzen der Welt zugeschnitten.[vii] Danach
gibt es ein Subjekt und davon getrennte Objekte. Das Subjekt wird als aktive
Form betrachtet, das Objekt als passive, das heißt, das Subjekt handelt aktiv, und ein Objekt (das auch ein Mensch sein kann) erduldet passiv und lässt auf sich einwirken. Unsere Begriffe
suggerieren, dass es sich in der Welt um reale oder ideale Dinge und Entitäten (Signifikate) handelt, die von einem
Begriff (Signifikant) bezeichnet
werden. In diesem Ansatz besteht eine Entität für sich als unveränderliche Einheit
oder Ur-Einheit in der Welt. Unsere
Worte neigen also dazu, Sachverhalte, Zusammenhänge und sogar Prozesse zu verdinglichen, zu vereinfachen und
nahezulegen, dass dahinter die wahren
Entitäten zum Beispiel als Ideen
stehen würden.
Ein derartiges Weltbild
tendiert zur Statik und sogar zur Erstarrung, sodass Erweiterungen und
Veränderungen, die von sich aus Prozesscharakter haben, als untergeordnet und
nebensächlich erscheinen. Typisch hierfür ist zum Beispiel die Philosophie des
Griechen Zenon[viii], der
durch spitzfindige und scheinbar hoch intelligente Argumentationen beweisen
wollte, dass es überhaupt keine Änderungen und Bewegungen geben könne. Am
bekanntesten ist sein scheinbarer Beweis, dass der schnellste Läufer in der
Mythologie der Antike, Achill, niemals eine
Schildkröte im Lauf überholen könne, wenn er ihr einen Vorsprung gewährt.
An diesem scheinbaren Paradox haben sich über 2000 Jahre intelligente Denker
versucht. Eine einfache Lösung hat sich schließlich durch die mathematische Differential- und Integralrechung
ergeben, die allerdings erst im 17. Jahrhundert entwickelt und endgültig im 19.
Jahrhundert bewiesen wurde.[ix] Die
Differentialrechnung baut auf Veränderungen auf und beschreibt Prozesse, sie
führt zu eindeutigen mathematischen Lösungen.
Im Gegensatz zu solchen
philosophischen Ansätzen, die das Unveränderliche betonen, stehen bei Gautama
Buddha Veränderungen, Erweiterungen, die Befreiung und Emanzipation des
Menschen im Vordergrund, damit er aus seinen Leiden, seinem Elend und seinen
Schmerzen herauskommen und sogar die höchste menschliche Lebensform des
Erwachens bzw. der Erleuchtung
erreichen kann. Ihn interessierte also weniger die ontologische Frage „Was
ist?“ oder „Was existiert?“, sondern welche
Veränderungen es bei gegebenen Zusammenhängen und Wechselwirkungen im
wirklichen Leben gibt. Seine Fragestellung zielt weniger auf das Seiende oder
das Sein ab, sondern auf das Werden,
Entstehen und Verändern. Meines
Wissens ist dieser fundamentale Paradigmenwechsel in der Menschheitsgeschichte
zuerst von Gautama Buddha vollzogen worden, um den Menschen nicht nur Wissen
über das, was ist und was existiert, zu vermitteln, sondern wie sich der Mensch
befreien und emanzipieren kann, um zu
seiner jeweiligen höchsten Lebenswirklichkeit zu kommen.
Da nun aber alle indoeuropäischen
Sprachen wie auch das Sanskrit ähnlich aufgebaut und nach Subjekt, Objekt,
Aktiv, Passiv usw. gegliedert sind und überwiegend latent auf unveränderliche
Entitäten des Wesens und der Existenz rekurrieren, traten auch in der indischen
buddhistischen Philosophie die Tendenzen zu statischem, entitätsbezogenem
Ewigkeitsdenken auf. Dadurch wurde die von Buddha entwickelte Befreiungslehre des Werdens und Entstehens unterminiert.
Offenbar
empfinden fast alle Menschen eine tiefe Sehnsucht nach dem unveränderlichen
Wesen und den Ur-Ideen und Ur-Bausteinen unserer Welt, die in ewiger Wahrheit
als sichere Fixpunkte des eigenen Lebens und der eigenen Existenz wirksam sind
– die Sehnsucht nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Schon bei
oberflächlicher Betrachtung wird jedoch deutlich, dass bei dieser Sichtweise
Glaubenskämpfe und Verhärtungen in Ideologien und Doktrinen unvermeidlich sind.
Weil die unendlich komplexe Wirklichkeit unserem Verstand nicht zugänglich ist,
werden derartige Scheinrealitäten in eine andere angenommene heile Welt
verlagert, die als ewig, wahr und wesentlich angenommen wird.
Für
das so tief empfundene Wesentliche werden dann die verschiedensten Begriffe
verwendet, wie Rasse und Blut bei den
Nationalsozialisten, der Markt bei
Wirtschaftsgläubigen, religiöse Dogmen
und Doktrinen in den Glaubensreligionen, sodass dann sogar daran geglaubt wird,
Mord sei der Weg zur Verwirklichung der ewigen Wahrheit und der Reinigung von
Unwahrem. Dadurch wird die Gesellschaft gespalten, gegeneinander aufgehetzt und
mit Hass infiziert; bei den entsprechenden Akteuren ergibt sich geradezu zwanghaft
der ethische und moralische Niedergang. Es kommt zu Vorgängen, die man
umgangssprachlich als Gehirnwäsche
bezeichnet, so zum Beispiel bei den Mitgliedern des „Islamischen Staates“ und
der neonazistischen Bewegung.
Die
philosophischen Grundlagen der Ontologie sowie der tiefe Glaube an Ur-Wesen und
Ur-Ideen, aus denen sich die konkreten Dinge und Phänomene angeblich entwickelt
haben, werden im MMK eingehend behandelt und sorgfältig destruiert. Danach gibt
es eine meist unsichtbare innere Substanz und äußerlich wahrnehmbare Merkmale. Nāgārjuna verwendet dafür unter anderem den Begriff
svabhāva, der schwer ins Deutsche zu
übersetzen ist, weil diese Semantik im Westen bisher nur ansatzweise
herausgearbeitet wurde. Er weist nach, dass diese angebliche Substanz
illusionär und eine Täuschung ist. Sie ist also ein Produkt des denkenden
Geistes, der sich selbst täuscht, und ist eine der Hauptursachen des Leidens.
Ich möchte dafür den Begriff Eigen-Substanz,
Aus-sich-selbst-Seiendes oder
Selbst-Substanz verwenden, wobei Substanz weitgehend illusionär,
spekulativ-metaphysisch im Sinne von Ur-Idee und Ur-Wesen zu verstehen ist. Man
könnte auch den Begriff Selbst-Identität verwenden,
weil die Ur-Idee und das Ur-Wesen selbst-identisch und selbst-genügsam sein
sollen, sich ohne Wechselwirkung mit anderen erhalten und in den Dingen und
Phänomenen der Welt manifestieren.
Eine
umfassende Lebensphilosophie muss jedoch sowohl das Seiende, das weitgehend als Zustand oder Dinghaftes gedacht wird,
und das Werden als auch den wirklichen Augenblick des Lebens umfassen.
Nāgārjuna untersucht im MMK die einzelnen wechselwirkenden Faktoren und bringt
sie mit den im Buddhismus so wichtigen Früchten, also der buddhistischen
Transformation der Persönlichkeit, in Verbindung. So beschreibt er prozesshafte
Abläufe am einfachen Beispiel des Gehens und destruiert dabei Weltanschauungen,
die für lebendige Prozesse völlig ungeeignet sind. Diese praktische Philosophie
möchte ich als Differential-Ontologie
bezeichnen. Denn es geht um aktive
Veränderungen zur Befreiung und Emanzipation und nicht um Sachen, Zustände
und Substanzen. Eine solche Differential-Ontologie
wurde m. E. in Europa zu wenig beachtet und entwickelt, da leider die "klassische"
Substanz-Ontologie im Vordergrund stand und steht.
Zudem
bezieht er sich direkt auf ein berühmtes Lehrgespräch Gautama Buddhas, in dem
die Extremaussagen des sogenannten
„gesunden Menschenverstandes“, zum Beispiel zu Existenz und Nicht-Existenz
sowie zu absolut wahr und falsch, behandelt und abgelehnt werden. Solche
Extremaussagen, die das exklusive „Entweder-Oder“ verwenden, sind also
gleichbedeutend mit einem dinghaften, ontologischen Weltbild, das grundsätzlich
wenig geeignet ist für Veränderungen, Entstehen und Vergehen und dadurch zu
großen Problemen und Leiden führt.
Nāgārjuna
begeht jedoch nicht den Fehler, dass er unklare buddhistische Lehrmeinungen in
Bausch und Bogen ablehnt und damit ausdrückt, dass diese überhaupt nicht
existieren. Auf diese Weise hätte er die absolutistische Methode der Extreme
selbst angewendet, die er gerade überwinden möchte. Stattdessen geht er
realistisch und pragmatisch vor, untersucht die fruchtbaren Beziehungen
zwischen positiven und negativen Annahmen, analysiert deren Wechselwirkungen in der Wirklichkeit und
stellt sie angemessen dar.
Nach
meinem Verständnis entspricht dies der Bedeutung der différance, die der Philosoph Jacques Derrida[x] beschrieben
hat. Sie steht für eine Auffassung von Sprache, bei der Zusammenhänge und
Wechselwirkungen scheinbar gegensätzlicher Aussagen und Begriffe im Mittelpunkt
stehen. Laut Derrida gibt es also kein absolut und dogmatisch Richtiges oder
Falsches in der Form eines exklusiven
Entweder-Oder, sondern es kommt gerade auf die Übergänge, Erweiterungen und
Verschiebungen von Vorstellungen und Begriffen an. Dadurch werden radikale
Gegensätze vermieden, die es in der Realität gar nicht gibt, denn der
menschliche Geist assoziiert mit einer positiven Aussage fast automatisch deren
gespiegelte negative Aussage. Dementsprechend sind die scheinbar radikalen
Negationen bei Nāgārjuna auch in Bezug zu ihren positiven Begriffen zu
verstehen und nicht als ein-eindeutige ewige negative Wahrheit. Das wurde
meines Erachtens bisher zu wenig beachtet, und das europäische Denken in
Gegensätzen und Extremen wurde meist unbewusst bei der Interpretation angewendet.
So dürfen zum Beispiel die
sogenannten acht Negationen wichtiger buddhistischer Begriffe in der Präambel
des MMK nicht als extreme Aussagen im Sinne von „sie existieren nicht“
verstanden werden. Vereinfacht kann man sagen, dass Nāgārjuna diese acht
Begriffe einer De-Konstruktion
unterzieht, also deren falsches Verständnis destruiert,
was er durch die Negativform der Begriffe deutlich macht. Aber gleichzeitig
arbeitet er ihre positive wirkliche Bedeutung heraus. Dadurch gewinnt er eine
erhebliche neue Freiheit bei der Interpretation der Begriffe und kann sie auf
die von ihm verstandenen Bedeutungen im authentischen Buddhismus zurück- und
darüber hinausführen. Extreme wie erstarrte Doktrinen und rechthaberische
Machtideologien sind absolutistischer Natur und werden von Buddha und Nāgārjuna
enttarnt. Dies eröffnet für die Menschen neue Horizonte der Erweiterung und
Emanzipation.
[i] Weber-Brosamer, Bernhard; Back, Dieter M.: Die
Philosophie der Leere, S. 2
[ii] Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way.
Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika. Translation by Gudo Wafu Nishijima
Kalupahana, David J.: Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way, Mūlamadhyamakakārika
Kalupahana, David J.: Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way, Mūlamadhyamakakārika
[iii] Kalupahana, David J.: A History of Buddhist Philosophy
[iv] von Parmenides über Platon, Aristoteles und weiter
[v]
Platon: Hauptwerke
[vi] Capelle, Wilhelm: Die Vorsokratiker (Heraklit), S.
126ff.
[vii] Derrida, Jacques:
Die Schrift und die Differenz
[viii] Capelle, Wilhelm: Die Vorsokratiker (Zenon), S.
171ff.
[ix] Leibniz und Newton
[x] Derrida, Jacques:
Randgänge der Philosophie