(Aus dem zukünftigen Buch)
Nâgârjunas Mittlerer Weg (MMK) wird zu Recht als eines der wichtigsten Dokumente des Buddhismus hoch geschätzt. Er hatte nachweisbar großen Einfluss auf die buddhistischen Entwicklungen in China, Japan, Korea und Tibet. Auch im Westen ist ein deutlich ansteigendes Interesse zu beobachten. Aber wegen seiner philosophischen Komplexität ist dieses Werk nicht einfach zu verstehen und zu entschlüsseln. Die hoch entwickelte indische Philosophie seiner Zeit mag für uns im Westen zu dem nicht ohne weiteres zugänglich.
Was ist die zentrale Botschaft des MMK? Antwort: Die wahre Mitte des Menschen sowie der Dinge und Phänomene ist ein dynamisches lebendiges Ganzes und ist keine doktrinäre Schein-Substanz (in Sanskrit âtman und svabhâva). Dabei geht es besonders um gekoppelte Funktionen der lebenden Netze. Wer an die doktrinäre Schein-Substanz glaubt, hat nach Buddha und Nagarjuna keine gute Chance auf Befreiung und Erleuchtung. Der Mensch sowie die Dinge und Phänomene sind leer von einer solchen Schein-Substanz. Eine andere Bezeichnung dafür ist scheinbare Eigen-Substanz. Damit ist auch gesagt, was der Begriff der Leerheit im MMK bedeutet: Es geht um die Leerheit von solchen doktrinären Schein-Substanzen im Inneren des Menschen und in der Welt. Letztlich geht es um die Leerheit von einem doktrinären und illusionären Schein-Ich, das in einen unheilsamen Ablauf verstrickt ist.
Nagarjunas Aussagen widersprechen zum Teil den üblichen individualistisch
überzogenen Weltanschauungen unserer Zeit. Warum? Der Glaube an die eigene
großartige oder aber jämmerliche eigene Ich-Substanz als den wahren Wesenskern
ist immer noch in unserer westlichen Kultur tief verankert und weit verbreitet.
Er äußert sich beispielsweise in rücksichtslosem Egoismus oder dem Gegenteil
eines jammernden Klage-Ich.
Das Lehrgedicht Nagarjunas erlangt dadurch heute große Aktualität und macht
es besonders wertvoll zur Überwindung eines aus den Fugen geratenen
Individualismus. Es hat also einen großen Informations-Mehrwert gerade für den
heutigen westlichen Zeitgeist.
Die wichtigsten Erkenntnisse der 27 Kapitel des MMK und deren
Interpretationen sollen im Folgenden in Sieben Weisheiten zusammengefasst
werden. Wir haben dabei versucht, möglichst verständlich zu formulieren, ohne
die fundamentalen Erkenntnisse Nagarjunas zu verändern oder gar auszudünnen.
Gemeinsames lebendiges Entstehen in
Wechselwirkung kontra lebensfeindliche doktrinäre Schein-Substanzen.
Alle Buddhisten waren und sind sich einig, dass das dogmatische
vorbuddhistische Selbst des Menschen, der âtman, abzulehnen ist. Er galt
nach der alten indischen Lehre als unveränderlich, unzerstörbar und ewig. Aber
dieser âtman pervertierte häufig zu einem übergroßen Ego und war Kernstück des
Dogmas der Ungerechtigkeit des Kasten-Systems. Dadurch gab es viel Leiden und
Schmerzen in Buddhas Zeit.
Laut dieser Weltanschauung und Philosophie des Brahmanismus vor Buddha war
die Welt außerdem aus festen Bausteinen
(Dharmas) aufgebaut. Diese Dharmas waren grundsätzlich unteilbar,
unveränderlich, ewig und voneinander unabhängig.
Später entwickelte sich leider auch im Buddhismus der feste Glaube, dass diese Entitäten oder Substanzen, die
„Bausteine der Welt“, Dharmas, unveränderlich, ewig und voneinander isoliert existieren würden. Dies gilt
insbesondere in der Linie der sogenannten Sarvastivadins. Diese Doktrin des Substantialismus
verfälscht jedoch nach Nâgârjuna grundsätzlich die authentische Lehre Buddhas,
denn sie ist mit Buddhas Grundsatz der dynamischen Veränderung sowie des Entstehens und Vergehens in Wechselwirkung
nicht vereinbar. Ich folge ihm bei dieser Einschätzung ausdrücklich. Mit der
Doktrin derartiger statischen Schein-Substanzen ist bei genauer Analyse die
Überwindung des Leidens und die
Befreiung und Erleuchtung unmöglich. Neue wichtige Fähigkeiten,
Potenziale und Funktionen des Menschen zu seiner Befreiung und Emanzipation
können dann nicht entstehen und verwirklicht werden. Daher stellt Nagarjuna das
gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) an den Anfang
seines tiefgründigen Lehrgedichts, des MMK der Mitte.
Auch mit der doktrinären Fehlentwicklung des Momentanismus seiner
Zeit können prozesshafte Veränderungen beim Menschen nicht sachgerecht erfasst
werden. Dann ist der vernetzte Fluss von Körper, Geist und Psyche nicht
realisierbar. Die Anhänger dieser Lehre, die Sautrantikas, behaupteten nämlich, dass die Welt aus zeitlich
getrennten, sehr kleinen isolierten Bausteinen bestehen würde, die wie Atome
auftauchen und verschwinden. Auch das ist eine doktrinäre Sackgasse und
verfälscht den authentischen Buddhismus.
Nâgârjuna analysiert und destruiert mit großer Präzision dieses falsche
Grundprinzip der Statik, der unveränderlichen Eigen-Substanz und der Isolation
in beiden Linien. Denn es handelt sich um Schein-Substanzen und Schein-Natur.
Er macht bereits in der Präambel des MMK deutlich, dass die Dharmas der Welt
und der Menschen durch das gemeinsame
vernetzte Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) gekennzeichnet sind. Die gesamte Welt
mit den zusammen wirkenden Öko-Systemen lässt sich nicht auf eine Ansammlung
isolierter Schein-Substanzen reduzieren. Auch die Menschen sind mit einer
Doktrin von statischen Schein-Substanzen überhaupt nicht zu verstehen.
Der Mensch ist mehr als ein Haufen fiktiver ausgedachter Bausteine von
angeblichen Eigen-Substanzen. Die Dinge und Phänomene der Wirklichkeit sind
gerade nicht statisch, substanzhaft und fixiert, sondern veränderlich,
dynamisch und wechselwirkend vernetzt. Das ist die klar erkennbare Realität und
so werden die Dharmas erfahren. Die doktrinär erzeugten Hemmnisse und Blockaden
des Menschen kommen dann zur Ruhe, und unsere Befreiung aus Fixierungen beginnt
zu wirken. Damit kommt der Prozess der Befreiung und Erleuchtung in Gang.
Buddha und Nagarjuna sind aus meiner Sicht die ersten Denker der
Menschheit, die systemisch und wechselwirkend analysiert und gedacht haben. Im
Westen sind die entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse erst in den
letzten siebzig Jahren verlässlich erarbeitet worden. Vielleicht hätte mit
diesem Wissen die rücksichtslose Ausbeutung unserer Öko-Systeme früher gestoppt
werden können! Auch die aktuelle Gehirnforschung basiert auf dem Prinzip der
Vernetzung, Rückkopplung und dynamischen Veränderung.
Das richtige Verständnis von
Leerheit bedeutet, dass die doktrinäre Schein-Substanz ein fundamentaler Irrtum
ist.
Nâgârjuna gilt zu Recht als der wichtigste buddhistische Meister und
Philosoph der Leerheit, die zentrale Bedeutung für die weiteren Entwicklungen
des Mahâyâna-Buddhismus in China, Japan, Korea und Tibet erlangte. Leider gibt
es viele Fehl-Interpretationen der Leerheit oder, wie es oft auch heißt, der
Leere. Zum Teil sind das erstaunlich unklare und vage Vorstellungen. Häufig wurde
Leerheit mit dem Nichts und Nihilismus verwechselt oder verschwommen vermischt.
Daher sind das genaue Verständnis und die richtige Bedeutung des Begriffs der
buddhistischen Leerheit bei Nagarjuna kaum zu überschätzen.
In Kapitel 24 des MMK untersucht er zunächst die authentische Bedeutung der
Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades, also der zentralen Lehren
Buddhas. Er verbindet die Vier Edlen Wahrheiten dabei mit dem gemeinsamen
Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und besonders mit der
Leerheit (shûnyatâ). Der entsprechende Vers lautet in genauer deutscher
Übersetzung wie folgt:
„Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlere Zugang (zu Buddhas Wahrheit).“
Im der zweiten Zeile geht es um diese Bezeichnung und dessen Funktion: Wenn man sich diese Bezeichnung angeeignet hat, eröffnet sich der Zugang zum Weg der Mitte. Und dies ist der Zugang zur eigenen Befreiung, Erleuchtung und Emanzipation. Aber der Zugang ist nicht selbst die Erleuchtung, wie in der Literatur häufig zu lesen ist. Denn oft heißt es: Leerheit ist identisch mit dem mittleren Weg und Ereluchtung. Das ist zu einach und sogar Substanz-Denken der Identität. Also eher westliches Denken. Und die Wirklichkeit soll es gar nicht geben.
Nagarjuna argumentiert m. E. anders: Es ist unsinnig zu behaupten, dass es keine Wirklichkeit gibt, denn das wäre Nihilismus. Diese Aussage ist in sich falsch. Philosophisch einwandfrei ist es vielmehr, eine Wirklichkeit anzunehmen. Sie ist aber unendlich komplex und zwar strukturell, prozesshaft und funktional. Deswegen kann kein Mensch die Wirklichkeit vollständig erkennen. Diese Komplexität muss also in der Kommunikation so reduziert werden, dass der Begriff der Leerheit eine nützliche Funktion erfüllt. Dadurch eröffnet sich der Zugang zum Mittleren Weg, denn dadurch wird die buddhistische Botschaft vermittelt. Es können hemmende und verzerrende Doktrinen ausgeschaltet werden. Die positive menschliche Entwicklung auf dem Mittleren Weg führt dann zur Erleuchtung. Vor allem die Doktrinen des âtman und der Schein-Substanz der Dharmas, svabhâva, verhindern Befreiung und Erleuchtung. Und die Wirklichkeit ist leer von diesen Doktrinen. Ich teile diese philosophische Interpretation. Sie verhindert Substanz-Philosophie für Leerheit, wechselseitigem Entstehen, Erleuchtung und Mittlerem Weg. Die buddhistische Befreiungs-Botschaft besteht ja vor Allem aus den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfache Pfad zur Veränderung und der Überwindung von Leiden und Schmerzen. Die Substanz-Philosophie ist dabei völlig ungeeignet. Die unzureichenden Interpretationen basieren meist auf ungenauen Übersetzungen und Substanz-Philosophie. Daher ist eine genaue Übersetzung direkt aus dem Urtext des Sanskrit notwendig, Wort für Wort, Zeile für Zeile.
Das recht Verständnis der Leerheit gilt für die Überwindung des durch Unklarheiten und falsche Doktrinen
erzeugten Leidens, also der Doktrin der Schein-Natur und der Schein-Substanz.
Die Sichtweise der so verstandenen Leerheit eröffnet damit den authentischen
Befreiungsweg Buddhas. Eine Doktrin der statischen und unveränderlichen
Eigen-Substanz kann bei genauer Betrachtung überhaupt keine Überwindung von
Schmerzen und Leiden ermöglichen. Dazu bedarf des Verständnisses von Veränderungen,
des kontinuierlichen Lernens, der Emanzipation und der Befreiung von einer
Doktrin der unveränderliche fiktiven Eigen-Substanz oder Eigen-Essenz. Aus dieser Doktrin erwächst dann die falsche Trennung von Subjekt und Objekt.
Oder umgekehrt ausgedrückt: Wenn man die Bedeutung von Leerheit falsch
versteht, ist der Befreiungsweg Buddhas blockiert und versperrt. Das heißt,
dass die substantialistischen Doktrinen der unveränderlichen, isolierten und
ewigen Dharmas (Dinge und Phänomene) überhaupt nicht zur Befreiung und
Überwindung des Leidens führen können. Diese Doktrinen beschreiben eine
Fata-Morgana, Illusionen und Schein-Wahrheiten. Dies umso mehr, wenn sie als
absolute aber falsche Dogmen daher kommen. Und Nagarjuna sagt dazu: Wenn
man die Leerheit falsch versteht, ist es so als ob man eine "giftige
Schlange" falsch ergreift. Einem solchen Menschen sei "nicht zu
helfen".
Die Kraft für den inneren Frieden
kommt aus der Mitte. Übertreibungen und isolierte Extreme blockieren Erwachen und Befreiung.
Buddha und Nâgârjuna warnen eindringlich vor allen Extremen, ob im Geist
oder bei den Komponenten des Menschen, also den Skandhas. Die Extreme bedeuten
vor Allem, dass etwas entweder total existiert oder dass es total nicht
existiert. Die weit verbreitete Vorstellung von absoluter Existenz oder
Nicht-Existenz destruiert Buddha selbst in einem berühmten Sûtta, weil es
solche Extreme in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Das Gleiche gilt für
doktrinäre absolute Einheit und Differenz. Derartige Extremvorstellungen und
-behauptungen werden durch unseren eigenen fehl geleiteten Geist und unseren
unrealistischen Intellekt künstlich erzeugt. Die wahre Natur hat keine Extreme,
weil sie dynamisch vernetzt ist. Daher gibt es in der Naturwissenschaft bei
genauer Messung keine Korrelation von 0 oder 100 %, nämlich extreme Trennung
und extreme Einheit von Funktionen. Dann kann es keine Wechselwirkung geben.
Klare Beweise für die Schädlichkeit von Extrem-Ideologien sind zum Beispiel
brutale Gruppierungen, Sekten und
politische Strömungen wie in der NS-Zeit und des islamischen IS. Besonders
deutlich sind Fehlinformationen bei Fake News von Macht versessenen Politkern
wie Trump und Diktatoren. Sie unterscheiden total nach Freund und Feind und vor
allem schwarz-weiß Bewertungen. Und sie sind spalterisch aktiv.
Derartige Entweder-Oder Dogmen sind aus meiner Sicht tief in der westlichen
Kultur verankert und meistens gar nicht bewusst. Psychische Extreme verbrauchen
viel Energie, bringen meistens wenig Information-Mehrwert und erzeugen Unheil.
Das wird besonders deutlich im meist sinnlosen Kampf-Modus, der dem Kämpfenden vielleicht ein
Helden-Gefühl einbringt, aber wenig Positives bewirkt. Von der Gehirnforschung
wissen wir, dass bei derartigen Adrenalin-Ausschüttungen das Frontalhirn
abgeschaltet wird. Dadurch wird Vernunft, Abwägung und Ethik ebenfalls
ausgeschaltet. Dann kann kein Gleichgewicht der Mitte von Körper und Geist
entstehen.
Der Mittlere Weg hat gerade keine Extreme, aber auch keine Mittelmäßigkeit. Beweis: Das japanische Bogenschießen., die Meditation und Kung Fu gelingen nur aus der Mitte! Durch die Mitte und die Vermeidung von isolierten Extremen ergeben sich neue vitale Kräfte
und vor allem Möglichkeiten der nachhaltigen eigenen Entwicklung und
Emanzipation. Wer aus seiner Mitte heraus lebt, verschwendet keine Zeit und
Kraft für wilde Extreme. Er haftet nicht an Gier, Hass und Verblendung, wie es
bei Buddha heißt: "Unabhängig lebt er und haftet an nichts in der
Welt". Dies ist die letzte Lehre Buddhas und Meister Dogens.
Die Sehnsucht der Menschen nach der ewigen unzerstörbaren Eigen-Substanz
Auch im Buddhismus hatten sich zur Zeit Nagarjunas also bestimmte Doktrinen
und Sekten entwickelt, die der alten menschlichen Sehnsucht gehorchten, dass es
im Leben etwas Unveränderliches, Dauerhaftes, Ewiges und Verlässliches geben
müsse. Dadurch entstanden ähnliche Doktrinen der Schein-Substanzen wie in der
Religion und den Philosophien vor Buddha. So behaupteten zum Beispiel die
Sarvastivadins, die Vertreter des Substantialismus, dass die Dharmas als
Bausteine des Lebens und der Welt unveränderlich, ewig und von einander isoliert
seien. Dies kann aber der Wechselwirkung
Buddhas nicht entsprechen. Der zentrale Begriff dieser Sekte der angeblichen
Bausteine der Welt heißt in Sanskrit svabhâva.
Dieses bezeichnet unveränderliche, ewige Substanzen, die in sich gleichbleibend
und in Ur-Zeiten allein aus sich selbst entstanden sind. Ich verwende dafür den
Begriff „doktrinäre Eigen-Substanz“,
das ist also eine Schein-Substanz.
Die menschliche Sehnsucht nach Unveränderlichkeit und Ewigkeit führt
unweigerlich zu Illusionen, Schein-Wirklichkeiten und Täuschungen. Mit solchen
Doktrinen kann es keine Befreiung von Leiden und Schmerzen geben und die
Erleuchtung ist nicht zu verwirklichen. Derartige Doktrinen verhindern die
genaue Beobachtung von sich selbst, von anderen Menschen und der Umwelt. Je
mehr unheilsame Doktrinen im Menschen dominieren, desto größer ist die Gefahr
von Verdrängungen und Neurosen. Illusionäre Doktrinen vom Ich verhindern gerade
gute Lösungen in schwierigen Lebens-Situationen.
Genau diese Sehnsucht nach einem ewigen unzerstörbaren Selbst hatte Buddha
als gefährlich und schädlich erkannt, da es der Wirklichkeit nicht entspricht
und zu Leiden und Schmerzen führt. In der Welt und beim Menschen entstehen und
vergehen Dinge und Phänomene in Wechselwirkung. Es geht gerade darum, die
Veränderungen zur eigenen Befreiung zu nutzen. Dabei muss man der Wirklichkeit
ins Auge sehen, um nicht durch Sehnsüchte und falsche Tagträume abgetrieben zu
werden. Besonders falsche Gurus und Populisten missbrauchen derartige
Sehnsüchte der Menschen und machen sie von sich abhängig. Sie verdecken damit
ihre eigenen egoistischen unmoralischen Absichten. Solche Sehnsüchte könne
blind machen für das eigene Glück und die eigene Freude. Dann kann sich eine
selbst steuernde Kette von Entwicklungen ins eigene Unglück und Leiden
verstärken. Buddha und Nagarjuna beschreiben dieses Drama in der sogenannten
zwölfgliedrigen Kette zum Leiden und zu Schmerzen.
Nâgârjuna destruiert und falsifiziert solche Schein-Substanzen, die durch
Sehnsüchte und Abhängigkeiten gekennzeichnet ist, und zwar unmissverständlich
und eindeutig. Er weist nach, dass mit dieser irrigen Sehnsucht, also von
Ideologien getrieben, die gesamte Lehre Buddhas zur Überwindung des Leidens und
der Befreiung hinfällig wird.
Wahres Handeln und Karma ist
heilsames Leben. Es befreit von doktrinärem Ballast und erzeugt neue Energien
Für eine gute und heilsame Veränderung des Menschen bedarf es des
praktischen Tuns und Handelns in geistiger, psychischer und körperlicher
Hinsicht. Im Mahâyâna-Buddhismus wird das Bodhisattva-Handeln genannt. Dieses
Handeln ist heilsam für andere Menschen aber auch für uns selbst. Wer in diesem
Sinne ohne ideologische Verzerrungen handelt, erfährt also selbst heilsame
Wirkungen und hilft außerdem anderen. Wer ohne Eigen-Nutz anderen hilft,
gibt nichts weg, sondern gewinnt dazu und ist auch psychisch gut drauf. Diese
doppelseitigen Wirkungen sind durch die aktuelle Gehirnforschung voll
bestätigt. Das heißt aber, dass wir genau im Augenblick des Bodhisattva-Handeln
sofort die gute Wirkung selbst erleben und erfahren. Das hat eine wichtige
ethische Komponente, nämlich dass unser Handeln anderen hilft und sie auf ihrem
Weg der Befreiung unterstützt. Und das hilft auch uns selbst.
Meister Nishijima bezeichnet auch die Zazen-Meditation als Handeln in der
richtigen Sitzhaltung, um sich im Gleichgewicht, in Ruhe und Sammlung zu
verwirklichen. Er nennt Zazen daher die erste Erleuchtung. Wenn jemand aber
durch Doktrinen von substantialistischer Ich-zentrierter eingebildeter
Eigen-Substanz verblendet ist, kann er die gute Karma-Wirkung weder im
Augenblick noch in der Zukunft erfahren
Durch aktives und nicht zuletzt bewusstes Handeln können wir unser Leben
nachhaltig positiv gestalten, wenn wir nach der buddhistischen Lehre die rechte
Sichtweise haben. Dann können wir klar ethisch Richtiges und Falsches
unterscheiden. Für das rechte und damit heilsame Handeln sind im Buddhismus
die zehn sogenannten Bodhisattva-Gelöbnisse entwickelt worden, mit denen
ethisch klares Handeln erleichtert und gebündelt wird. Handeln kann jedoch auch
aus egoistischem oder gar verbrecherischem Wollen entstehen und geleitet
werden. Das wird vor allem durch falsche Doktrinen gesteuert und durch den
Glauben an ein grandioses Ego. Daraus wird deutlich, dass nicht alles und jedes
Handeln im buddhistischen Sinne unterstützend und nützlich für den eigenen und
fremden Befreiungsweg ist.
Im Buddhismus haben die sogenannten Früchte
des Handelns, also die Ergebnisse, eine hohe Bedeutung. Hier warnt
Nâgârjuna in aller Klarheit, dass eine falsche Doktrin von Schein-Substanzen
dem buddhistischen Handlungsprozess schadet oder ihn sogar sinnlos macht. Das
Handeln verkehrt sich in sein Gegenteil, wie etwa bei den
national-sozialistischen oder radikal-islamischen Ideologien. Auch das naive
dinghafte und starre Verständnis dieser Früchte führt in die Sackgasse. Mit
einer solchen Doktrin kann es nicht gelingen, den Achtfachen Pfad zu
beschreiten, die Faktoren der Erleuchtung zu verwirklichen und nachhaltige
Befreiung zu erlangen.
Nirvâna ist die wirkliche Befreiung hier und jetzt, genau in diesem Leben
Nirvâna ist keine total andere Welt, in die die Eigen-Substanz des Menschen
wie ein Produkt irgendwann nach unendlich vielen Wiedergeburten in unendlicher
Zukunft in grenzenlosem Glück eingeht. Das kann eine typisch unrealistische
Doktrin sein, die das jetzige Leiden nicht überwindet und es nicht gegenstandslos
macht, sondern ins Unrealistische wegführt. Buddha und Nâgârjuna vertreten in aller Klarheit die Wirklichkeit von
Prozessen und Funktionen der Veränderung, Befreiung und Emanzipation in diesem
Leben. Nicht zuletzt dadurch gelingt die Befreiung hier in diesem Leben.
Dadurch kommen das Leiden und die wegführenden Verirrungen zur Ruhe, wie es in
der Präambel des MMK heißt. Das abrupte doktrinäre Umschlagen von
substanzhaftem Leiden in wiederum substanzhaftes unbegrenztes Glück ist
Illusion und geht meist nach hinten los! So etwas gibt es in der Wirklichkeit
nicht. Es handelt sich um ein doktrinäres extremes Konstrukt des Geistes, also
falsches Schwarz-Weiß-Denken.
Es geht um das große Lebensziel der Befreiung des Menschen in diesem Leben
im Hier und Jetzt. Nâgârjuna nennt diese Befreiung Nirvâna und
distanziert sich damit von dem Glauben, das Nirvâna sei in einer jenseitigen transzendenten
Welt zu finden, die total verschieden von der hiesigen realen Welt der Leiden
und Sehnsüchte ist. Wenn wir also das Nirvâna in diesem Leben verwirklichen,
dann verwirklichen wir hier und jetzt den großen Frieden, und zwar in Ruhe und
im Handeln.
Wir befreien uns dann aus dem fatalen Kreislauf des selbst erzeugten
Leidens und der hektischen Aktivitäten. Der heutige digitale Stress und der
aufgeregt Kampf-Modus werden überflüssig. Oder kurz gesagt: Die buddhistische
Lehre und Praxis geben uns die Möglichkeit, uns jetzt in diesem Leben so
weiterzuentwickeln, dass wir ein freies Leben führen können, wie wir es wollen.
Dann entwickeln wir eine effiziente Selbst-Steuerung. Dies ist gleichzeitig ein
gutes und freudiges Leben, das die unnötigen und oft selbst erzeugten Hemmnisse
überwunden hat. Besonders bei lebenswichtigen Entscheidungen erkennen wir dann
den rechten Weg in die Zukunft, durch klare unaufgeregte Präsenz im Augenblick.
Das ist die gute Wechselwirkung der eigenen Erinnerungen mit der Gegenwart und
den Erwartungen der Zukunft.
Ein solches Leben hat Buddha durch die Sieben Faktoren der Erleuchtung
authentisch und verlässlich beschrieben. Wir sollten uns im Hier und Jetzt vor
den wegführenden Illusionen eines grenzenlosen himmlischen Lebens hüten, in dem andauerndes
unbedingtes Glück und unendliche Glückseligkeit herrschen. Sie werden fragen, warum nicht. Antwort: So etwas darf nicht zu schädlichen Verdrängungen führen. Wir werden auch
zukünftig mit Problemen konfrontiert sein, aber wir können unnötiges Leiden
durch die buddhistische Praxis und Lehre vermeiden. Dann wird das Leben
insgesamt besser, das kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen
Die zwölf Glieder
der großen Befreiung und wie das Leiden wirklich schrittweise zur Ruhe kommt
Nâgârjuna schließt mit der genauen Analyse des praktischen und geistigen
Befreiungsweges den fundamentalen Zyklus des MMK ab. Er ebnet damit den Weg zur
Bereinigung des authentischen Buddhismus und dessen weiterer Entwicklung. Er
nennt zwölf Glieder und Phasen der menschlichen Entwicklung in Wechselwirkung,
an deren Anfang der „umhüllte“ Mensch steht, verblendet von Unwissen und
unheilsamen Doktrinen. Ein solcher Mensch hängt dem Substanz-Glauben an, ist
also in der Doktrin der Eigen-Substanz gefangen. Er kann daher seine mögliche
Lebensdynamik nicht entfalten. Die formenden Kräfte auch des Unbewussten
bewirken dann Erstarrung und Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung.
Ein unwissender Mensch, der in unreflektierten unheilsamen
Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien gefangen ist, geht einen
zwangsläufigen unheilsamen Weg des Lebens. Dieser Weg kann immer mehr ins
Unheil und Leiden führen, Schritt für Schritt. Es handelt sich im Buddhismus um
eine Kette von zwölf Phasen in die Unfreiheit und oft ins Chaos. Dabei
wiederholen sich fatale Zyklen, die durch immer wieder gleiche Probleme
entstehen und sich zu großem, meist unnötigem Leiden auftürmen.
Umgekehrt gibt es in jeder Phase und bei jedem Schritt unseres Lebens die
reale Möglichkeit der Emanzipation und Befreiung von einer solchen
Zwangsläufigkeit. Dann verschwinden Leiden und Elend zunehmend aus unserem
Leben. Wir gehen auf dem Weg der zunehmenden Freiheit. Die jeweilige vorherige
Phase erzeugt die Anschluss-Qualität für eine positive weitere Entwicklung der
folgenden Phasen. Der Teufelskreis des sich wiederholenden Elends ist
aufgelöst. Die äußeren negativen Kräfte verlieren ihre steuernde Kraft. Plötzlich
ergeben sich neue heilsame Alternativen. Mut und Hoffnungen in die Zukunft
nehmen zu und geben Sicherheit und Vertrauen zu sich selbst.
Nâgârjuna fasst im Kapitel 26 diese beiden grundsätzlich möglichen Abläufe
des menschlichen Lebens der Befreiung oder der unfreien Abhängigkeit vom Leiden
zusammen. Von großer Bedeutung sind dabei Aussagen, in denen die Befreiung von
Anhaftungen, vom Ergreifen schädlicher Doktrinen und Dogmen der Eigen-Substanzen,
des Egoismus und der narzistischen Selbstüberhöhung beschrieben werden. Mit der
Befreiung aus der fatalen negativen Vorprogrammierung wird der unheilsame
Verlauf des Leidens durchbrochen. Das ist Erwachen und Erleuchtung. Dann
verwirklicht sich die Buddha-Natur, nicht zuletzt bei der Meditation, im Flow
der sinnvollen Arbeit und beim Handeln nach dem Bodhisattva-Ideal.
Für jeden Menschen gibt es diese Möglichkeiten tiefgreifender Befreiung, um
das Erwachen aus Dumpfheit und geistigem
Gefängnis zu realisieren. Fundamental sind dabei die rechte Sichtweise und die
rechten Entscheidungen sowie die weiteren sechs Bereiche des Achtfachen Pfades,
zum Beispiel der Meditation. Es geht letztlich um die Vermeidung der fünf
Hemmnisse Buddhas.
Wir erzeugen also selbst die Wurzeln der Freiheit oder der Unfreiheit des Leidens, heißt es im MMK. Daher sind wir nicht passiv Erduldende sondern aktiv Handelnde. Wir schaffen uns den Sinn des Lebens selbst und folgen keinen programmierten einengenden Doktrinen. Wir bringen diese eigenen Wurzeln in die Dynamik der formenden Kräfte ein, die uns entweder zum Glück und zur Freude oder aber zum Leiden und Elend bringen. Nâgârjuna sagt dazu: "Zur-Ruhe-Kommen“ des Leidens, um auszudrücken, dass der große Friede bei gleichzeitigem klarem Handeln verwirklicht wird. Das geht in den sich steuernden Phasen der Kette von zwölf Gliedern.