Mittwoch, 21. Oktober 2020

Der Mittlere Weg von Meister Nagarjuna, Kapitel 26

Eröffnung neuer Horizonte – Befreiung von Unwissenheit und unheilsamen Doktrinen

Hinführung zu den Problemen und bisherige Unklarheiten

Mit diesem Kapitel schließt Nāgārjuna seinen fundamentalen Zyklus zur Bereinigung und weiteren Entwicklung des wahren Buddhismus ab. Es ist aus meiner Sicht zugleich der Höhepunkt des MMK, vor allem auch wegen der positiven lebensbejahenden Weisheiten. Er nimmt darin Bezug auf die zwölf Faktoren und Bereiche der menschlichen Entwicklung, die Buddha im Sūtta für Kaccāna schildert. Diese Faktoren und deren zeitliche Entwicklung im Gang des Lebens werden in ihrem Zusammenwirken beschrieben. Verkürzt gesagt, sind sie gleichzeitig eine präzise Schilderung der Buddha-Natur des Menschen, die gerade keine täuschende Substanz oder dingliche Sache ist, sondern ein erwachter lebendiger Strom des gelungenen Lebens. An dessen Anfang steht der von Unwissen „umhüllte“ und gefesselte Mensch, der sich aufgrund der unheilsamen und doktrinären formenden Kräfte und Prägungen nicht heilsam entwickeln kann und seiner wahren befreienden Lebensdynamik beraubt ist.

Ein unwissender Mensch, der in unreflektierten Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien gefangen ist, geht einen weitgehend zwangsläufigen und doktrinär vorgegebenen Lebensweg. Häufig sind diese unheilsamen Doktrinen von den drei Giften Gier, Hass und Verblendung gesteuert. Bei Suchtabhängigen wird die Gier nach unstillbarem Genuss maßgebend sein. Bei Extremisten und Ideologen werden Hass und Verachtung vorherrschen. Bei Materialisten sind sicher das Unwissen über den wahren Sinn des Lebens und der materielle Egoismus besonders ausgeprägt. Außerdem sind gerade in der heutigen Zeit die psychischen Defizite der Narzissten und der am Borderline-Syndrom Erkrankten zu nennen. Viele unerkannte Falschnachrichten der Medien und der sogenannten sozialen Netze verstärken heute das Unwissen über wahre Freiheit und wahres Glück der Menschen.

Nach Buddha gibt es aber in jeder Phase und in jedem Augenblick unseres Lebens die Chance der Emanzipation und Befreiung von einer solchen Zwangsläufigkeit, sodass Leiden und Elend weitgehend überwunden werden und aus unserem Leben verschwinden: Die Leiden und Ängste kommen zur Ruhe, Lebensfreude und Kreativität eröffnen dann für uns neue Horizonte. Das ist nach meinem Verständnis das Erwachen der Buddha-Natur, nicht als statischer Zustand, sondern als lebendiger erwachter Strom. Bestimmte Probleme, Krisen und äußere Katastrophen können wir nicht vermeiden – das ist die Wahrheit vom Leiden. Aber es geht entscheidend darum, wie wir damit fertigwerden und vor allem wie wir zusätzliches oder grundloses Leiden vermeiden können. Es kommt darauf an, wie wir unsere Probleme so verarbeiten, dass unser Leiden zur Ruhe kommt, und wie wir unserem Leben eine neue heilsame Richtung geben und auf dem neuen sinnvollen Weg vorankommen. Hier möchte ich an die buddhistische Geschichte des Massenmörders Angulimala erinnern, der von Buddha in die Sangha aufgenommen wurde und durch seine Übungspraxis Erleuchtung und Befreiung erlangte. Sein Leben hatte durch die Begegnung mit Buddha eine fundamental neue Richtung und einen neuen Sinn erfahren.

Nāgārjuna hat in den vorherigen 25 Kapiteln doktrinäre Fehlentwicklungen mit großer philosophischer Präzision destruiert und dabei nur in kurzen Anmerkungen auf den wahren Buddhismus der Befreiung vom Leiden und der Bewältigung menschlicher Probleme verwiesen. Durch die Einführung des Begriffs der Leerheit gelingt es ihm, die Doktrin des Substantialismus zu enttarnen und ad absurdum zu führen. Sie sei für eine Philosophie und Praxis der Befreiung wirklich ungeeignet und sogar gefährlich. Kurz zusammengefasst sagt er, dass die Wirklichkeit leer ist von einer Metaphysik der unveränderlichen, ewigen und täuschenden Substanzen in den Dingen und Phänomenen, den Dharmas. Dies bedeutet auch eine Kritik an der westlichen Substanz-Ontologie, die Ähnlichkeiten mit einer weit verbreiteten philosophischen Seins-Ontologie hat.[i] Buddhas und Nāgārjunas philosophische Grundlagen möchte ich demgegenüber als Differential-Ontologie bezeichnen, denn im Mittelpunkt stehen menschliche Veränderungen wie Befreiung, Kreativität und Emanzipation, also Differenzen und Differentiale. Diese Veränderungen verlaufen als Lebensstrom, sie steuern sich in ihrer Folge teilweise selbst, zum Guten oder zum Schlechten. Aber sie sind auch von uns selbst aktiv steuerbar, wie Buddha nachdrücklich betont. In der gegenwärtigen westlichen Philosophie finden sich ähnliche Überlegungen bei Deleuze und Derrida.

In diesem Kapitel fasst Nāgārjuna die beiden grundsätzlich möglichen Wege menschlichen Lebens zusammen. Er beschreibt einerseits den Ausweg und die Befreiung aus einer determinierten negativen Entwicklung. Das ist seine klare, positive Interpretation der buddhistischen Lehre. Andererseits umreißt er eine zwangsläufige Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung, die zum Leiden führen muss. Diese leidhafte Entwicklung nimmt nach Nāgārjuna ihren fatalen Gang, wenn die Lehre Buddhas nicht vermittelt wurde oder durch falsche Doktrinen verzerrt wird.

Nāgārjuna beschreibt die Faktoren, die maßgeblich sind dafür, ob ein Leben in doktrinärer Unwissenheit, Unfreiheit und im Leiden verläuft oder ob es zur Befreiung und Emanzipation als Aufbruch in eine neue offene Zukunft und Lebensform führt. Diese Faktoren wirken sowohl zeitlich parallel als auch zeitlich gegliedert. Dann werden sie in der Literatur als schrittweise Abfolge des Befreiungsweges interpretiert. Aber dieser zeitliche Ablauf ist meines Erachtens durchaus variabel und kann je nach der Individualität des Menschen, der den Weg geht, abgewandelt werden.

Grundsätzlich gibt es für dieses Kapitel zwei unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Erstens können die zwölf Phasen der menschlichen Entwicklung auf drei aufeinanderfolgende Leben und die jeweiligen Wiedergeburten verteilt werden. Zweitens können die Phasen oder Faktoren in einem bestimmten Lebenszustand einem einzigen Leben von der Geburt bis zum Tod zugeordnet werden. Aus meiner Sicht ist eine solche Unterscheidung allerdings nicht erforderlich, und ich gehe davon aus, dass Nāgārjunas stark empirisch und phänomenologisch orientierte Arbeitsweise für verschiedene Alternativen anwendbar ist. Ausdrücklich möchte ich meine Interpretation auf das im gegenwärtigen Augenblick erfahrbare eine Leben beziehen. Für die Deutung, die drei Wiedergeburten einbezieht, verweise ich besonders auf die MMK-Interpretationen von Kalupahana und Garfield.[ii]

Die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas beschreiben den therapeutischen Weg der Emanzipation und Befreiung aus Leiden und Elend unabhängig vom Glauben an eine Wiedergeburt. Gleiches gilt für die Fünf Hemmnisse und die Sieben Faktoren der Erleuchtung. Da Nāgārjuna sich in der Präambel des MMK explizit auf die Lehren Buddhas bezieht und die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad in den Mittelpunkt seiner eigenen Lehre stellt, sollte meines Erachtens auch Kapitel 26 vor allem als präzise Beschreibung des therapeutischen Emanzipationsweges verstanden werden. Dabei ist es weniger wichtig, ob sich die Befreiung in diesem Leben oder im Verlauf von mehreren Wiedergeburten ereignet. Zudem warnt Nāgārjuna im letzten Kapitel des MMK eindringlich vor irreführenden Doktrinen und illusionären menschlichen Sehnsüchten im Hinblick auf die Wiedergeburt.

Wie in der Präambel und in verschiedenen Kapiteln ausgeführt, verwendet Nāgārjuna für die Freiheit und Unabhängigkeit von falschen Doktrinen den Begriff „Leerheit“. Leerheit ist eine Sichtweise und Bezeichnung des gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens, das frei von Verzerrungen durch extreme und falsche Ansichten ist.[iii] Die zunehmende Unabhängigkeit und Befreiung von einengenden und unsinnigen Doktrinen erfordern die klare fortlaufende Beobachtung von uns selbst, die Buddha mit Achtsamkeit[iv] bezeichnet. Dabei möchte ich auch auf Kants zentrale Aussage der Aufklärung hinweisen: „Habe den Mut, selbst zu denken!“

Nāgārjuna untersucht die verschiedenen Faktoren der Unfreiheit oder Befreiung in unserem Leben daraufhin, ob sie von falschen doktrinären Ansichten und Extremen abhängig sind oder ob sie im Gegenteil durch eigenes „Wissen“ zur Freiheit führen und unser Leiden so zur Ruhe kommt.

Mit diesen Faktoren wird eine zusammenhängende Deutung der Problembewältigung und Emanzipation des Menschen gegeben, die nicht durch den religiösen Glauben an ein ewiges Ātman-Selbst oder unveränderliche Dharmas dominiert wird. Wir werden zwar immer wieder mit Problemen konfrontiert – Leiden durch Einsamkeit, Angst und Stress wegen Überforderung und Schicksalsschlägen, Angst vor Arbeitslosigkeit, Krankheiten und dem Verlust geliebter Menschen –, aber bei der Bewältigung kann der wahre Buddhismus wirkungsvoll helfen. Kurz gesagt: Es geht um die Wirklichkeit selbst. Doris Zölls schreibt dazu: „Die Wirklichkeit jedoch zu erkennen, dazu braucht es ein ganz neues Erleben. Dieses Erkennen wird im Zen als das große Erwachen beschrieben. Wir erwachen aus den Träumen, lassen die Bilder hinter uns, die wir uns über das Leben machen.“[v]

 

Ertrag und Mehrwert an Informationen des Kapitels 26

In diesem zentralen Kapitel geht es um den Weg der Befreiung und Emanzipation des Menschen, auf dem Unwissenheit und hemmende formende Kräfte zur Ruhe kommen und überwunden werden. Nāgārjuna beschreibt die Ausgangslage als Fixierung durch Unwissenheit im Gegensatz zum Wissen und zur Weisheit. Diese Unwissenheit ist durch unheilsame Prägungen und Täuschungen maßgeblich fixiert. Er hebt besonders die Wechselwirkung der Komponenten des Menschen (Skandhas) mit der Dynamik der formenden Kräfte und Prägungen des Menschen (samskāra) hervor. Wissen und formende Kräfte sind keine isolierten Entitäten oder Substanzen, sondern interagieren miteinander.

Ein Wissen in unserem Geist und Gehirn, das losgelöst vom Handeln gedacht wird, kann keine weiterführenden Entwicklungen zur Befreiung in Gang bringen. Ein solches substanzhaft gedachtes Wissen bleibt weitgehend wirkungslos und folgenlos, da es isoliert ist. Auch die heutige Gehirnforschung und Biologie gehen von der Wechselwirkung unseres Wissens, Könnens, Planens, Handelns und unserer ethischen Werte mit den anderen Bereichen des Menschen aus. Eine Doktrin der substanzhaften oder essenzhaften Isolation ist eine unsinnige und einseitige metaphysische Doktrin. Leider ist bei vielen Menschen zu beobachten, dass sie in ihrem Leben zyklisch immer wieder gleiche oder ähnliche Fehler begehen, die dann in einen zwangsläufigen erneuten zyklischen Ablauf münden, der wiederum zu Leiden, Elend und psychischen Schmerzen führt. Buddhas Befreiungslehre setzt genau bei diesen Problemen an, um solche Teufelskreise zu durchbrechen.

Mit den Begriffen „Wissen und Erkenntnis“ spricht Nāgārjuna die wahre buddhistische Lehre an, die ohne Zutun göttlicher Kräfte oder überirdischer Energien den Menschen in die Lage versetzt, sich selbst zu befreien und neue bessere Lebenschancen wahrzunehmen. Allein dieser Ansatz muss meines Erachtens in Anbetracht der Zeit um 500 vor der Zeitenwende geradezu als Revolution für die menschliche Befreiung und Therapie eingeschätzt werden. In allen mythischen Gesellschaften geht es dagegen überwiegend um außermenschliche, meist gute oder gefährliche göttliche Kräfte, die auf das Leben der Menschen, Familien und Volksstämme einwirken würden und nur durch religiöse Praktiken zu beeinflussen seien. In der vorbuddhistischen Zeit hatte sich eine derartige determinierende und ritualisierte Religion (Brahmanismus) gesellschaftswirksam entwickelt. Die Brahmanen, also die Priester der damaligen Religion, behaupteten von sich, dass sie sogar die Götter mit ihren Ritualen und Fähigkeiten steuern und somit selbstverständlich auch die lebenden Menschen determinieren könnten.

Buddha hat neue Wege gesucht, um solche unheilsamen Abhängigkeiten von gefährlichen Religionen, Ideologien und Doktrinen zu überwinden. Die Menschen können somit ihre Entwicklung, ihr Schicksal und ihre Chancen selbst in die Hand nehmen. Er beschreibt dies vor allem im Achtfachen Pfad der Befreiung, der die rechte Sichtweise, das rechte Handeln, die rechte Achtsamkeit, den rechten Lebenserwerb, die rechte Ausdauer und Energie sowie die rechte Meditation und Sammlung umfasst. Buddha schildert die Meditation dabei sehr praktisch und detailliert und gibt den Menschen damit ein wirksames Mittel an die Hand, um zu Reflexion, Selbstreflexion und größtmöglicher Selbstbeobachtung sowie Entscheidungsfreiheit zu gelangen. In der chinesischen und japanischen Tradition wird die Meditationsform des Shikantaza („nichts als Sitzen“) im Zazen für außerordentlich wirksam gehalten, um durch „das Tor des Friedens und der Freude“ zu gehen, wie es mein Lehrer Nishijima Roshi formulierte. Ich praktiziere selbst seit vielen Jahren Zazen. Es handelt sich dabei um eine gegenstandslose und emotional beruhigte Meditationsform, die aus meiner Sicht auch den direkten Zugang zum Erleben der Leerheit eröffnet, ohne dass komplizierte philosophische Denkprozesse erforderlich wären.

Nach Buddha gliedert sich der Mensch in fünf Komponenten, die man sich allerdings nicht abgegrenzt konkretistisch vorstellen darf, sondern sie umfassen die zentralen Bereiche des Lebens und des Menschen, aber auch der gesamten Welt, und sie ermöglichen durch ihre Wechselwirkung überhaupt erst das Leben. In diesem Kapitel, wie auch in den vorhergehenden, kommt derjenigen Komponente des Menschen, die in Sanskrit samskāra heißt, ganz besondere Bedeutung zu.

Es gibt dafür eine große und oft verwirrende Bandbreite von Übersetzungen und Interpretationen. So bezeichnet beispielsweise der bekannte Wissenschaftler Kalupahana diese Komponente auf Englisch als disposition, was sich auf Deutsch etwa mit „Disposition“, „Bestimmung“ oder „Potenzial“ wiedergeben lässt.[vi] Der deutsche Indologe und Buddhologe Peter Gäng verwendet die Übersetzung „formende Kräfte“, um damit nicht nur die Disposition, sondern auch die handelnden Kräfte selbst zu beschreiben.[vii] Ich folge seiner Übersetzung weitgehend und bin überdies davon überzeugt, dass mit der Komponente samskāra die umfassende steuernde Dynamik, das Handeln des Menschen und die Wechselwirkung in unserer Welt bezeichnet werden. Nishijima Roshi verwendet daher einfach die Übersetzung „Handeln“ (action), die meinem eigenen Verständnis recht nahe kommt.

Die Gliederung in Komponenten des Menschen kann man sich gut am Beispiel der Wahrnehmung klarmachen. Dazu gehören die Wahrnehmungsorgane wie Augen, Ohren, Nase usw. sowie das Sehen, Hören, Riechen usw., also die entsprechend trainierten und ausgebildeten Fähigkeiten zur Wahrnehmung. Sie sind eng mit den zugehörigen Teilsystemen des Geistes und damit auch des neuronalen Netzes und dessen Informationsverarbeitung verbunden, also vor allem mit den Tätigkeiten des Wahrnehmens selbst. Schließlich werden Erinnerungen und Ergebnisse der Wahrnehmungsvorgänge als Spuren oder Bahnungen im Gehirn mehr oder minder langfristig gespeichert. Diese verschiedenen Bereiche der Wahrnehmung sind nach Buddhas Gliederung in der Komponente samskāra enthalten. Die formenden Kräfte sind nicht fehlerfrei, können aber trainiert werden.

Bei der Komponente der formenden Kräfte (samskāra) geht es um das Potenzial, um die real trainierten und eingeübten Fähigkeiten, das Tun und Handeln selbst und um die bahnenden Ergebnisse im Gehirn, die für zukünftiges Leben und Überleben unbedingt erforderlich sind. Daran ist zu erkennen, dass meine Interpretation umfassender und breiter ist als etwa die Bedeutung des Begriffs dispositions, die letztlich nur das Potenzial, aber nicht die Verwirklichung selbst umfasst. Mit dem Potenzial ist nämlich die lebendige Verwirklichung gerade nicht identisch, sondern es ist nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung.

Die von anderen Autoren verwendete Bedeutung „Tatabsichten“ erscheint mir ebenfalls zu begrenzt, denn mit den Absichten ist das wirkliche Tun und Handeln auch nicht vollständig erfasst. Tatabsichten führen nicht zwangsläufig zum entsprechenden Tun und Handeln, sondern können getrennt von den weiteren Prozessen als reine Absicht und Vorstellung verbleiben. Der bekannte Interpret des MMK, Jay L. Garfield, neigt meines Erachtens zu dieser Auffassung.[viii] Damit würde der im Zen-Buddhismus so zentrale Lebensmoment des Tuns und Handelns in der Form des Bodhisattva-Handelns nur als Tatabsicht verstanden. Möglicherweise steht dahinter der Ansatz der Wiedergeburt, also die Vorstellung, dass diese Tatabsichten von einem Leben zum nächsten weitergegeben werden und den Start im neuen Leben bestimmen. Diese Sichtweise überzeugt mich nur teilweise, da Buddha und Nāgārjuna recht klar äußern, dass keine der Komponenten des Lebens dinghaft und unverändert in eine neue Inkarnation übernommen werde. Es bleibt im Buddhismus durchaus schwierig, eine rationale Erklärung der Wiedergeburt zu formulieren. Aus meiner Sicht sollte man die gesamte Reinkarnation daher als Bereich des Glaubens verstehen und die Einstellung dazu jedem Menschen selbst überlassen.

Von besonderer Bedeutung in Kapitel 26 ist der Vers 26.7, in dem die Befreiung von Abhängigkeit, Ergreifen und Determinierung explizit erwähnt wird. Damit wird die Zwangsläufigkeit des Ablaufs der Phasen, die zum Leiden und Elend führen, außer Kraft gesetzt, und die Befreiung aus dem fatalen vorprogrammierten unheilsamen Ablauf zum Leiden wird durchbrochen. In Vers 26.10 formuliert Nāgārjuna dann in aller Klarheit, dass wir selbst die Wurzeln des Leidens erzeugen, formieren und in die Dynamik der formenden Kräfte einbringen, die uns zwingend zum Leiden und Elend vorantreiben. Wir haben nach Buddha und Nāgārjuna aber die Freiheit, derartige Wurzeln zu beseitigen und dafür zu sorgen, dass sie überhaupt nicht neu entstehen.

Für die Möglichkeit, aus dem fatalen deterministischen Ablauf herauszukommen, verwendet Nāgārjuna den wichtigen Ausdruck „zur Ruhe kommen“. Dieser hat auch in der Präambel eine zentrale Bedeutung für die Beschreibung des Befreiungsweges. Demnach führen die formenden Kräfte und die Dynamik des Lebens gerade nicht deterministisch und mit mechanistischer Zwangsläufigkeit zum Leiden, Elend und zu Schmerzen, sondern der Mensch befreit sich selbst von negativen Entwicklungen. Dadurch kann er den großen Frieden bei gleichzeitigem klarem Handeln verwirklichen.

 



[i] Geldsetzer, Lutz: Nagarjuna. Die Lehre von der Mitte

[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 370ff.; Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way (übersetzt und kommentiert von Jay L. Garfield), S. 335ff.

[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), Kapitel 24.18, S. 418f.

[iv] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S.16ff.

[v] Zölls, Doris: Mumonkan. Sich selbst finden in den Weisheiten alter Zen-Koans, S. 13

[vi] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 41f.

[vii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 43

[viii] Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way (übersetzt und kommentiert von Jay L. Garfield)