Eröffnung neuer Horizonte – Befreiung von Unwissenheit und unheilsamen Doktrinen
Hinführung zu den Problemen und bisherige Unklarheiten
Mit diesem Kapitel schließt Nāgārjuna seinen fundamentalen Zyklus zur Bereinigung und weiteren Entwicklung des wahren Buddhismus ab. Es ist aus meiner Sicht zugleich der Höhepunkt des MMK, vor allem auch wegen der positiven lebensbejahenden Weisheiten. Er nimmt darin Bezug auf die zwölf Faktoren und Bereiche der menschlichen Entwicklung, die Buddha im Sūtta für Kaccāna schildert. Diese Faktoren und deren zeitliche Entwicklung im Gang des Lebens werden in ihrem Zusammenwirken beschrieben. Verkürzt gesagt, sind sie gleichzeitig eine präzise Schilderung der Buddha-Natur des Menschen, die gerade keine täuschende Substanz oder dingliche Sache ist, sondern ein erwachter lebendiger Strom des gelungenen Lebens. An dessen Anfang steht der von Unwissen „umhüllte“ und gefesselte Mensch, der sich aufgrund der unheilsamen und doktrinären formenden Kräfte und Prägungen nicht heilsam entwickeln kann und seiner wahren befreienden Lebensdynamik beraubt ist.Ein unwissender Mensch, der in unreflektierten
Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien gefangen ist, geht einen weitgehend zwangsläufigen
und doktrinär vorgegebenen Lebensweg. Häufig sind diese unheilsamen Doktrinen
von den drei Giften Gier, Hass und Verblendung gesteuert. Bei Suchtabhängigen
wird die Gier nach unstillbarem Genuss maßgebend sein. Bei Extremisten und
Ideologen werden Hass und Verachtung vorherrschen. Bei Materialisten sind
sicher das Unwissen über den wahren Sinn des Lebens und der materielle Egoismus
besonders ausgeprägt. Außerdem sind gerade in der heutigen Zeit die psychischen
Defizite der Narzissten und der am Borderline-Syndrom Erkrankten zu nennen.
Viele unerkannte Falschnachrichten der Medien und der sogenannten sozialen
Netze verstärken heute das Unwissen über wahre Freiheit und wahres Glück der
Menschen.
Nach Buddha gibt es aber in jeder Phase und in
jedem Augenblick unseres Lebens die Chance der Emanzipation und Befreiung von
einer solchen Zwangsläufigkeit, sodass Leiden und Elend weitgehend überwunden
werden und aus unserem Leben verschwinden: Die Leiden und Ängste kommen zur
Ruhe, Lebensfreude und Kreativität eröffnen dann für uns neue Horizonte. Das
ist nach meinem Verständnis das Erwachen der Buddha-Natur, nicht als statischer
Zustand, sondern als lebendiger erwachter
Strom. Bestimmte Probleme, Krisen und äußere Katastrophen können wir nicht
vermeiden – das ist die Wahrheit vom Leiden. Aber es geht entscheidend darum,
wie wir damit fertigwerden und vor allem wie
wir zusätzliches oder grundloses Leiden vermeiden können. Es kommt darauf an,
wie wir unsere Probleme so verarbeiten, dass unser Leiden zur Ruhe kommt, und
wie wir unserem Leben eine neue heilsame Richtung geben und auf dem neuen
sinnvollen Weg vorankommen. Hier möchte ich an die buddhistische Geschichte des
Massenmörders Angulimala erinnern, der von Buddha in die Sangha aufgenommen
wurde und durch seine Übungspraxis Erleuchtung und Befreiung erlangte. Sein
Leben hatte durch die Begegnung mit Buddha eine fundamental neue Richtung und
einen neuen Sinn erfahren.
Nāgārjuna hat in den vorherigen 25 Kapiteln
doktrinäre Fehlentwicklungen mit großer philosophischer Präzision destruiert
und dabei nur in kurzen Anmerkungen auf den wahren Buddhismus der Befreiung vom
Leiden und der Bewältigung menschlicher Probleme verwiesen. Durch die
Einführung des Begriffs der Leerheit gelingt es ihm, die Doktrin des
Substantialismus zu enttarnen und ad absurdum zu führen. Sie sei für eine
Philosophie und Praxis der Befreiung wirklich ungeeignet und sogar gefährlich. Kurz
zusammengefasst sagt er, dass die Wirklichkeit leer ist von einer Metaphysik
der unveränderlichen, ewigen und täuschenden Substanzen in den Dingen und
Phänomenen, den Dharmas. Dies bedeutet auch eine Kritik an der westlichen
Substanz-Ontologie, die Ähnlichkeiten mit einer weit verbreiteten philosophischen
Seins-Ontologie hat.[i]
Buddhas und Nāgārjunas philosophische Grundlagen möchte ich demgegenüber als
Differential-Ontologie bezeichnen, denn im Mittelpunkt stehen menschliche
Veränderungen wie Befreiung, Kreativität und Emanzipation, also Differenzen und
Differentiale. Diese Veränderungen verlaufen als Lebensstrom, sie steuern sich
in ihrer Folge teilweise selbst, zum Guten oder zum Schlechten. Aber sie sind
auch von uns selbst aktiv steuerbar, wie Buddha nachdrücklich betont. In der
gegenwärtigen westlichen Philosophie finden sich ähnliche Überlegungen bei
Deleuze und Derrida.
In diesem Kapitel fasst Nāgārjuna die beiden
grundsätzlich möglichen Wege menschlichen Lebens zusammen. Er beschreibt einerseits
den Ausweg und die Befreiung aus einer determinierten negativen Entwicklung.
Das ist seine klare, positive Interpretation der buddhistischen Lehre. Andererseits
umreißt er eine zwangsläufige Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung, die
zum Leiden führen muss. Diese leidhafte Entwicklung nimmt nach Nāgārjuna ihren
fatalen Gang, wenn die Lehre Buddhas nicht vermittelt wurde oder durch falsche
Doktrinen verzerrt wird.
Nāgārjuna beschreibt die Faktoren, die maßgeblich
sind dafür, ob ein Leben in doktrinärer Unwissenheit, Unfreiheit und im Leiden
verläuft oder ob es zur Befreiung und Emanzipation als Aufbruch in eine neue
offene Zukunft und Lebensform führt. Diese Faktoren wirken sowohl zeitlich
parallel als auch zeitlich gegliedert. Dann werden sie in der Literatur als
schrittweise Abfolge des Befreiungsweges interpretiert. Aber dieser zeitliche
Ablauf ist meines Erachtens durchaus variabel und kann je nach der
Individualität des Menschen, der den Weg geht, abgewandelt werden.
Grundsätzlich gibt es für dieses Kapitel zwei
unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Erstens können die zwölf Phasen
der menschlichen Entwicklung auf drei aufeinanderfolgende Leben und die jeweiligen
Wiedergeburten verteilt werden. Zweitens können die Phasen oder Faktoren in
einem bestimmten Lebenszustand einem einzigen Leben von der Geburt bis zum Tod
zugeordnet werden. Aus meiner Sicht ist eine solche Unterscheidung allerdings
nicht erforderlich, und ich gehe davon aus, dass Nāgārjunas stark empirisch und
phänomenologisch orientierte Arbeitsweise für verschiedene Alternativen
anwendbar ist. Ausdrücklich möchte ich meine Interpretation auf das im
gegenwärtigen Augenblick erfahrbare eine Leben beziehen. Für die Deutung, die
drei Wiedergeburten einbezieht, verweise ich besonders auf die
MMK-Interpretationen von Kalupahana und Garfield.[ii]
Die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas beschreiben den
therapeutischen Weg der Emanzipation und Befreiung aus Leiden und Elend unabhängig
vom Glauben an eine Wiedergeburt. Gleiches gilt für die Fünf Hemmnisse und die
Sieben Faktoren der Erleuchtung. Da Nāgārjuna sich in der Präambel des MMK explizit
auf die Lehren Buddhas bezieht und die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen
Pfad in den Mittelpunkt seiner eigenen Lehre stellt, sollte meines Erachtens
auch Kapitel 26 vor allem als präzise Beschreibung des therapeutischen
Emanzipationsweges verstanden werden. Dabei ist es weniger wichtig, ob sich die
Befreiung in diesem Leben oder im Verlauf von mehreren Wiedergeburten ereignet.
Zudem warnt Nāgārjuna im letzten Kapitel des MMK eindringlich vor irreführenden
Doktrinen und illusionären menschlichen Sehnsüchten im Hinblick auf die
Wiedergeburt.
Wie in der Präambel und in verschiedenen Kapiteln
ausgeführt, verwendet Nāgārjuna für die Freiheit und Unabhängigkeit von
falschen Doktrinen den Begriff „Leerheit“. Leerheit ist eine Sichtweise und
Bezeichnung des gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens, das frei von
Verzerrungen durch extreme und falsche Ansichten ist.[iii]
Die zunehmende Unabhängigkeit und Befreiung von einengenden und unsinnigen
Doktrinen erfordern die klare fortlaufende Beobachtung von uns selbst, die
Buddha mit Achtsamkeit[iv]
bezeichnet. Dabei möchte ich auch auf Kants zentrale Aussage der Aufklärung
hinweisen: „Habe den Mut, selbst zu denken!“
Nāgārjuna
untersucht die verschiedenen Faktoren der Unfreiheit oder Befreiung in unserem
Leben daraufhin, ob sie von falschen doktrinären Ansichten und Extremen
abhängig sind oder ob sie im Gegenteil durch eigenes „Wissen“ zur Freiheit
führen und unser Leiden so zur Ruhe kommt.
Mit
diesen Faktoren wird eine zusammenhängende Deutung der Problembewältigung und
Emanzipation des Menschen gegeben, die nicht durch den religiösen Glauben an
ein ewiges Ātman-Selbst oder unveränderliche Dharmas dominiert wird. Wir werden
zwar immer wieder mit Problemen konfrontiert – Leiden durch Einsamkeit, Angst
und Stress wegen Überforderung und Schicksalsschlägen, Angst vor
Arbeitslosigkeit, Krankheiten und dem Verlust geliebter Menschen –, aber bei
der Bewältigung kann der wahre Buddhismus wirkungsvoll helfen. Kurz gesagt: Es
geht um die Wirklichkeit selbst. Doris Zölls schreibt dazu: „Die Wirklichkeit
jedoch zu erkennen, dazu braucht es ein ganz neues Erleben. Dieses Erkennen
wird im Zen als das große Erwachen beschrieben. Wir erwachen aus den Träumen,
lassen die Bilder hinter uns, die wir uns über das Leben machen.“[v]
Ertrag und Mehrwert an Informationen des Kapitels
26
In diesem zentralen Kapitel geht es um den Weg der
Befreiung und Emanzipation des Menschen, auf dem Unwissenheit und hemmende
formende Kräfte zur Ruhe kommen und überwunden werden. Nāgārjuna beschreibt die
Ausgangslage als Fixierung durch Unwissenheit im Gegensatz zum Wissen und zur
Weisheit. Diese Unwissenheit ist durch unheilsame Prägungen und Täuschungen
maßgeblich fixiert. Er hebt besonders die Wechselwirkung der Komponenten des Menschen
(Skandhas) mit der Dynamik der formenden
Kräfte und Prägungen des Menschen (samskāra) hervor. Wissen und
formende Kräfte sind keine isolierten Entitäten oder Substanzen, sondern
interagieren miteinander.
Ein Wissen in unserem Geist und Gehirn, das
losgelöst vom Handeln gedacht wird, kann keine weiterführenden Entwicklungen
zur Befreiung in Gang bringen. Ein solches substanzhaft gedachtes Wissen bleibt
weitgehend wirkungslos und folgenlos, da es isoliert ist. Auch die heutige
Gehirnforschung und Biologie gehen von der Wechselwirkung unseres Wissens,
Könnens, Planens, Handelns und unserer ethischen Werte mit den anderen
Bereichen des Menschen aus. Eine Doktrin der substanzhaften oder essenzhaften
Isolation ist eine unsinnige und einseitige metaphysische Doktrin. Leider ist
bei vielen Menschen zu beobachten, dass sie in ihrem Leben zyklisch immer
wieder gleiche oder ähnliche Fehler begehen, die dann in einen zwangsläufigen
erneuten zyklischen Ablauf münden, der wiederum zu Leiden, Elend und psychischen
Schmerzen führt. Buddhas Befreiungslehre setzt genau bei diesen Problemen an,
um solche Teufelskreise zu durchbrechen.
Mit den Begriffen „Wissen und Erkenntnis“ spricht Nāgārjuna
die wahre buddhistische Lehre an, die ohne Zutun göttlicher Kräfte oder
überirdischer Energien den Menschen in die Lage versetzt, sich selbst zu
befreien und neue bessere Lebenschancen wahrzunehmen. Allein dieser Ansatz muss
meines Erachtens in Anbetracht der Zeit um 500 vor der Zeitenwende geradezu als
Revolution für die menschliche Befreiung und Therapie eingeschätzt werden. In
allen mythischen Gesellschaften geht es dagegen überwiegend um
außermenschliche, meist gute oder gefährliche göttliche Kräfte, die auf das
Leben der Menschen, Familien und Volksstämme einwirken würden und nur durch
religiöse Praktiken zu beeinflussen seien. In der vorbuddhistischen Zeit hatte
sich eine derartige determinierende und ritualisierte Religion (Brahmanismus) gesellschaftswirksam
entwickelt. Die Brahmanen, also die Priester der damaligen Religion,
behaupteten von sich, dass sie sogar die Götter mit ihren Ritualen und
Fähigkeiten steuern und somit selbstverständlich auch die lebenden Menschen
determinieren könnten.
Buddha hat neue Wege gesucht, um solche
unheilsamen Abhängigkeiten von gefährlichen Religionen, Ideologien und
Doktrinen zu überwinden. Die Menschen können somit ihre Entwicklung, ihr
Schicksal und ihre Chancen selbst in die Hand nehmen. Er beschreibt dies vor
allem im Achtfachen Pfad der Befreiung, der die rechte Sichtweise, das rechte
Handeln, die rechte Achtsamkeit, den rechten Lebenserwerb, die rechte Ausdauer
und Energie sowie die rechte Meditation und Sammlung umfasst. Buddha schildert
die Meditation dabei sehr praktisch und detailliert und gibt den Menschen damit
ein wirksames Mittel an die Hand, um zu Reflexion, Selbstreflexion und
größtmöglicher Selbstbeobachtung sowie Entscheidungsfreiheit zu gelangen. In
der chinesischen und japanischen Tradition wird die Meditationsform des
Shikantaza („nichts als Sitzen“) im Zazen für außerordentlich wirksam gehalten,
um durch „das Tor des Friedens und der Freude“ zu gehen, wie es mein Lehrer
Nishijima Roshi formulierte. Ich praktiziere selbst seit vielen Jahren Zazen.
Es handelt sich dabei um eine gegenstandslose und emotional beruhigte
Meditationsform, die aus meiner Sicht auch den direkten Zugang zum Erleben der Leerheit eröffnet, ohne dass
komplizierte philosophische Denkprozesse erforderlich wären.
Nach Buddha gliedert sich der Mensch in fünf
Komponenten, die man sich allerdings nicht abgegrenzt konkretistisch vorstellen
darf, sondern sie umfassen die zentralen Bereiche des Lebens und des Menschen,
aber auch der gesamten Welt, und sie ermöglichen durch ihre Wechselwirkung überhaupt erst das Leben.
In diesem Kapitel, wie auch in den vorhergehenden, kommt derjenigen Komponente
des Menschen, die in Sanskrit samskāra
heißt, ganz besondere Bedeutung zu.
Es gibt dafür eine große und oft verwirrende
Bandbreite von Übersetzungen und Interpretationen. So bezeichnet beispielsweise
der bekannte Wissenschaftler Kalupahana diese Komponente auf Englisch als disposition, was sich auf Deutsch etwa mit „Disposition“, „Bestimmung“
oder „Potenzial“ wiedergeben lässt.[vi] Der deutsche Indologe und Buddhologe Peter Gäng
verwendet die Übersetzung „formende Kräfte“, um damit nicht nur die Disposition,
sondern auch die handelnden Kräfte selbst
zu beschreiben.[vii]
Ich folge seiner Übersetzung weitgehend und bin überdies davon überzeugt, dass
mit der Komponente samskāra die umfassende steuernde Dynamik, das
Handeln des Menschen und die Wechselwirkung in unserer Welt bezeichnet werden.
Nishijima Roshi verwendet daher einfach die Übersetzung „Handeln“ (action),
die meinem eigenen Verständnis recht nahe kommt.
Die Gliederung in Komponenten des Menschen kann
man sich gut am Beispiel der Wahrnehmung klarmachen. Dazu gehören die
Wahrnehmungsorgane wie Augen, Ohren, Nase usw. sowie das Sehen, Hören, Riechen
usw., also die entsprechend trainierten und ausgebildeten Fähigkeiten zur
Wahrnehmung. Sie sind eng mit den zugehörigen Teilsystemen des Geistes und
damit auch des neuronalen Netzes und dessen Informationsverarbeitung verbunden,
also vor allem mit den Tätigkeiten des Wahrnehmens selbst. Schließlich werden
Erinnerungen und Ergebnisse der Wahrnehmungsvorgänge als Spuren oder Bahnungen
im Gehirn mehr oder minder langfristig gespeichert. Diese verschiedenen
Bereiche der Wahrnehmung sind nach Buddhas Gliederung in der Komponente samskāra
enthalten. Die formenden Kräfte sind nicht fehlerfrei, können aber trainiert
werden.
Bei der Komponente der formenden Kräfte (samskāra)
geht es um das Potenzial, um die real trainierten und eingeübten Fähigkeiten,
das Tun und Handeln selbst und um die bahnenden Ergebnisse im Gehirn, die für
zukünftiges Leben und Überleben unbedingt erforderlich sind. Daran ist zu
erkennen, dass meine Interpretation umfassender und breiter ist als etwa die
Bedeutung des Begriffs dispositions,
die letztlich nur das Potenzial, aber nicht die Verwirklichung selbst umfasst.
Mit dem Potenzial ist nämlich die lebendige Verwirklichung gerade nicht
identisch, sondern es ist nur eine notwendige, aber nicht hinreichende
Bedingung.
Die von anderen Autoren verwendete Bedeutung „Tatabsichten“
erscheint mir ebenfalls zu begrenzt, denn mit den Absichten ist das wirkliche
Tun und Handeln auch nicht vollständig erfasst. Tatabsichten führen nicht
zwangsläufig zum entsprechenden Tun und Handeln, sondern können getrennt von
den weiteren Prozessen als reine Absicht und Vorstellung verbleiben. Der bekannte
Interpret des MMK, Jay L. Garfield, neigt meines Erachtens zu dieser
Auffassung.[viii]
Damit würde der im Zen-Buddhismus so zentrale Lebensmoment des Tuns und
Handelns in der Form des Bodhisattva-Handelns nur als Tatabsicht verstanden.
Möglicherweise steht dahinter der Ansatz der Wiedergeburt, also die
Vorstellung, dass diese Tatabsichten von einem Leben zum nächsten weitergegeben
werden und den Start im neuen Leben bestimmen. Diese Sichtweise überzeugt mich
nur teilweise, da Buddha und Nāgārjuna recht klar äußern, dass keine der
Komponenten des Lebens dinghaft und
unverändert in eine neue Inkarnation übernommen werde. Es bleibt im
Buddhismus durchaus schwierig, eine rationale Erklärung der Wiedergeburt zu
formulieren. Aus meiner Sicht sollte man die gesamte Reinkarnation daher als Bereich
des Glaubens verstehen und die Einstellung dazu jedem Menschen selbst
überlassen.
Von besonderer Bedeutung in Kapitel 26 ist der
Vers 26.7, in dem die Befreiung von Abhängigkeit, Ergreifen und Determinierung
explizit erwähnt wird. Damit wird die Zwangsläufigkeit des Ablaufs der Phasen,
die zum Leiden und Elend führen, außer Kraft gesetzt, und die Befreiung aus dem
fatalen vorprogrammierten unheilsamen Ablauf zum Leiden wird durchbrochen. In
Vers 26.10 formuliert Nāgārjuna dann in aller Klarheit, dass wir selbst die
Wurzeln des Leidens erzeugen, formieren und in die Dynamik der formenden Kräfte
einbringen, die uns zwingend zum Leiden und Elend vorantreiben. Wir haben nach
Buddha und Nāgārjuna aber die Freiheit, derartige Wurzeln zu beseitigen und
dafür zu sorgen, dass sie überhaupt nicht neu entstehen.
Für die Möglichkeit, aus dem fatalen
deterministischen Ablauf herauszukommen, verwendet Nāgārjuna den wichtigen
Ausdruck „zur Ruhe kommen“. Dieser hat auch in der Präambel eine
zentrale Bedeutung für die Beschreibung des Befreiungsweges. Demnach führen die
formenden Kräfte und die Dynamik des Lebens gerade nicht deterministisch und
mit mechanistischer Zwangsläufigkeit zum Leiden, Elend und zu Schmerzen,
sondern der Mensch befreit sich selbst von negativen Entwicklungen. Dadurch
kann er den großen Frieden bei gleichzeitigem klarem Handeln verwirklichen.
[i] Geldsetzer, Lutz:
Nagarjuna. Die Lehre von der Mitte
[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 370ff.; Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way
(übersetzt und kommentiert von Jay L. Garfield), S. 335ff.
[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), Kapitel 24.18, S. 418f.
[iv] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S.16ff.
[v] Zölls, Doris: Mumonkan. Sich selbst finden in den
Weisheiten alter Zen-Koans, S. 13
[vi] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 41f.
[vii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 43
[viii] Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way
(übersetzt und kommentiert von Jay L. Garfield)