Donnerstag, 29. Oktober 2020

Die Sieben Weisheiten der wahren Mitte

(Aus dem zukünftigen Buch)

Nâgârjunas Mittlerer Weg (MMK) wird zu Recht als eines der wichtigsten Dokumente des Buddhismus hoch geschätzt. Er hatte nachweisbar großen Einfluss auf die buddhistischen Entwicklungen in China, Japan, Korea und Tibet. Auch im Westen ist ein deutlich ansteigendes Interesse zu beobachten. Aber wegen seiner philosophischen Komplexität ist dieses Werk nicht einfach zu verstehen und zu entschlüsseln. Die hoch entwickelte indische Philosophie seiner Zeit mag für uns im Westen zu dem nicht ohne weiteres zugänglich.

Was ist die zentrale Botschaft des MMK? Antwort: Die wahre Mitte des Menschen sowie der Dinge und Phänomene ist ein dynamisches lebendiges Ganzes und ist keine doktrinäre Schein-Substanz (in Sanskrit âtman und svabhâva). Dabei geht es besonders um gekoppelte Funktionen der lebenden Netze. Wer an die doktrinäre Schein-Substanz glaubt, hat nach Buddha und Nagarjuna keine gute Chance auf Befreiung und Erleuchtung. Der Mensch sowie die Dinge und Phänomene sind leer von einer solchen Schein-Substanz. Eine andere Bezeichnung dafür ist scheinbare Eigen-Substanz. Damit ist auch gesagt, was der Begriff der Leerheit im MMK bedeutet: Es geht um die Leerheit von solchen doktrinären Schein-Substanzen im Inneren des Menschen und in der Welt. Letztlich geht es um die Leerheit von einem doktrinären und illusionären Schein-Ich, das in einen unheilsamen Ablauf verstrickt ist.

Nagarjunas Aussagen widersprechen zum Teil den üblichen individualistisch überzogenen Weltanschauungen unserer Zeit. Warum? Der Glaube an die eigene großartige oder aber jämmerliche eigene Ich-Substanz als den wahren Wesenskern ist immer noch in unserer westlichen Kultur tief verankert und weit verbreitet. Er äußert sich beispielsweise in rücksichtslosem Egoismus oder dem Gegenteil eines jammernden Klage-Ich.

Das Lehrgedicht Nagarjunas erlangt dadurch heute große Aktualität und macht es besonders wertvoll zur Überwindung eines aus den Fugen geratenen Individualismus. Es hat also einen großen Informations-Mehrwert gerade für den heutigen westlichen Zeitgeist.

Die wichtigsten Erkenntnisse der 27 Kapitel des MMK und deren Interpretationen sollen im Folgenden in Sieben Weisheiten zusammengefasst werden. Wir haben dabei versucht, möglichst verständlich zu formulieren, ohne die fundamentalen Erkenntnisse Nagarjunas zu verändern oder gar auszudünnen.

 Die erste Weisheit:

Gemeinsames lebendiges Entstehen in Wechselwirkung kontra lebensfeindliche doktrinäre Schein-Substanzen.

Alle Buddhisten waren und sind sich einig, dass das dogmatische vorbuddhistische Selbst des Menschen, der âtman, abzulehnen ist. Er galt nach der alten indischen Lehre als unveränderlich, unzerstörbar und ewig. Aber dieser âtman pervertierte häufig zu einem übergroßen Ego und war Kernstück des Dogmas der Ungerechtigkeit des Kasten-Systems. Dadurch gab es viel Leiden und Schmerzen in Buddhas Zeit.

Laut dieser Weltanschauung und Philosophie des Brahmanismus vor Buddha war die Welt außerdem aus festen Bausteinen (Dharmas) aufgebaut. Diese Dharmas waren grundsätzlich unteilbar, unveränderlich, ewig und voneinander unabhängig.

Später entwickelte sich leider auch im Buddhismus der feste Glaube, dass diese Entitäten oder Substanzen, die „Bausteine der Welt“, Dharmas, unveränderlich, ewig und voneinander isoliert existieren würden. Dies gilt insbesondere in der Linie der sogenannten Sarvastivadins. Diese Doktrin des Substantialismus verfälscht jedoch nach Nâgârjuna grundsätzlich die authentische Lehre Buddhas, denn sie ist mit Buddhas Grundsatz der dynamischen Veränderung sowie des Entstehens und Vergehens in Wechselwirkung nicht vereinbar. Ich folge ihm bei dieser Einschätzung ausdrücklich. Mit der Doktrin derartiger statischen Schein-Substanzen ist bei genauer Analyse die Überwindung des Leidens und die Befreiung und Erleuchtung unmöglich. Neue wichtige Fähigkeiten, Potenziale und Funktionen des Menschen zu seiner Befreiung und Emanzipation können dann nicht entstehen und verwirklicht werden. Daher stellt Nagarjuna das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) an den Anfang seines tiefgründigen Lehrgedichts, des MMK der Mitte.

Auch mit der doktrinären Fehlentwicklung des Momentanismus seiner Zeit können prozesshafte Veränderungen beim Menschen nicht sachgerecht erfasst werden. Dann ist der vernetzte Fluss von Körper, Geist und Psyche nicht realisierbar. Die Anhänger dieser Lehre, die Sautrantikas, behaupteten nämlich, dass die Welt aus zeitlich getrennten, sehr kleinen isolierten Bausteinen bestehen würde, die wie Atome auftauchen und verschwinden. Auch das ist eine doktrinäre Sackgasse und verfälscht den authentischen Buddhismus.

Nâgârjuna analysiert und destruiert mit großer Präzision dieses falsche Grundprinzip der Statik, der unveränderlichen Eigen-Substanz und der Isolation in beiden Linien. Denn es handelt sich um Schein-Substanzen und Schein-Natur. Er macht bereits in der Präambel des MMK deutlich, dass die Dharmas der Welt und der Menschen durch das gemeinsame vernetzte Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) gekennzeichnet sind. Die gesamte Welt mit den zusammen wirkenden Öko-Systemen lässt sich nicht auf eine Ansammlung isolierter Schein-Substanzen reduzieren. Auch die Menschen sind mit einer Doktrin von statischen Schein-Substanzen überhaupt nicht zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als ein Haufen fiktiver ausgedachter Bausteine von angeblichen Eigen-Substanzen. Die Dinge und Phänomene der Wirklichkeit sind gerade nicht statisch, substanzhaft und fixiert, sondern veränderlich, dynamisch und wechselwirkend vernetzt. Das ist die klar erkennbare Realität und so werden die Dharmas erfahren. Die doktrinär erzeugten Hemmnisse und Blockaden des Menschen kommen dann zur Ruhe, und unsere Befreiung aus Fixierungen beginnt zu wirken. Damit kommt der Prozess der Befreiung und Erleuchtung in Gang.

Buddha und Nagarjuna sind aus meiner Sicht die ersten Denker der Menschheit, die systemisch und wechselwirkend analysiert und gedacht haben. Im Westen sind die entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse erst in den letzten siebzig Jahren verlässlich erarbeitet worden. Vielleicht hätte mit diesem Wissen die rücksichtslose Ausbeutung unserer Öko-Systeme früher gestoppt werden können! Auch die aktuelle Gehirnforschung basiert auf dem Prinzip der Vernetzung, Rückkopplung und dynamischen Veränderung.

 Die zweite Weisheit:

Das richtige Verständnis von Leerheit bedeutet, dass die doktrinäre Schein-Substanz ein fundamentaler Irrtum ist.

Nâgârjuna gilt zu Recht als der wichtigste buddhistische Meister und Philosoph der Leerheit, die zentrale Bedeutung für die weiteren Entwicklungen des Mahâyâna-Buddhismus in China, Japan, Korea und Tibet erlangte. Leider gibt es viele Fehl-Interpretationen der Leerheit oder, wie es oft auch heißt, der Leere. Zum Teil sind das erstaunlich unklare und vage Vorstellungen. Häufig wurde Leerheit mit dem Nichts und Nihilismus verwechselt oder verschwommen vermischt. Daher sind das genaue Verständnis und die richtige Bedeutung des Begriffs der buddhistischen Leerheit bei Nagarjuna kaum zu überschätzen.

In Kapitel 24 des MMK untersucht er zunächst die authentische Bedeutung der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades, also der zentralen Lehren Buddhas. Er verbindet die Vier Edlen Wahrheiten dabei mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und besonders mit der Leerheit (shûnyatâ). Der entsprechende Vers lautet in genauer deutscher Übersetzung wie folgt:

„Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an. 

Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlere Zugang (zu Buddhas Wahrheit).“

 Es geht also um das gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung ohne verzerrende Doktrinen oder Ideologien. Diese angesprochene vernetzte Dynamik ist also die wahre Natur der Welt. Die Befreiung und Leerheit von verzerrenden Doktrinen ist Nagarjunas Sichtweise dieser wahren Natur. Sie kann allerdings nach Buddha nicht vollständig vom Menschen erfasst und verstanden werden. Auch Heilige  und Erleuchtete sind daher niemals allwissend, wie sogar heute noch manche glauben. Damit wird die Leerheit klar definiert und ist frei von Mystizismus, Metaphysik und kruden Spekulationen. Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung ist also nach Buddha und Nagarjuna das Grundprinzip der Welt. Diese wird in der Wirklichkeit als Leerheit angesehen und so bezeichnet und sie wird dadurch von verzerrenden und unheilsamen Doktrinen befreit.

Im der zweiten Zeile geht es um diese Bezeichnung und dessen Funktion: Wenn man sich diese Bezeichnung angeeignet hat, eröffnet sich der Zugang zum Weg der Mitte. Und dies ist der Zugang zur eigenen Befreiung, Erleuchtung und Emanzipation. Aber der Zugang ist nicht selbst die Erleuchtung, wie in der Literatur häufig zu lesen ist. Denn oft heißt es: Leerheit ist identisch mit dem mittleren Weg und Ereluchtung. Das ist zu einach und sogar Substanz-Denken der Identität. Also eher westliches Denken.  Und die Wirklichkeit soll es gar nicht geben. 

Nagarjuna argumentiert m. E. anders: Es ist unsinnig zu behaupten, dass es keine Wirklichkeit gibt, denn das wäre Nihilismus. Diese Aussage ist in sich falsch. Philosophisch  einwandfrei ist es vielmehr, eine Wirklichkeit anzunehmen. Sie ist aber unendlich komplex und zwar strukturell, prozesshaft und funktional. Deswegen kann kein Mensch die Wirklichkeit vollständig erkennen. Diese Komplexität muss also in der Kommunikation so reduziert werden, dass der Begriff der Leerheit eine nützliche Funktion erfüllt. Dadurch eröffnet sich der Zugang zum Mittleren Weg, denn dadurch wird die buddhistische Botschaft vermittelt. Es können hemmende und verzerrende Doktrinen ausgeschaltet werden. Die positive  menschliche Entwicklung auf dem Mittleren Weg führt dann zur Erleuchtung. Vor allem die Doktrinen des âtman und der Schein-Substanz der Dharmas, svabhâva, verhindern Befreiung und Erleuchtung. Und die Wirklichkeit ist leer von diesen Doktrinen. Ich teile diese philosophische Interpretation. Sie verhindert Substanz-Philosophie für Leerheit, wechselseitigem Entstehen, Erleuchtung und Mittlerem Weg. Die buddhistische Befreiungs-Botschaft besteht ja vor Allem aus den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfache Pfad zur Veränderung und der Überwindung von Leiden und Schmerzen. Die Substanz-Philosophie ist dabei völlig ungeeignet. Die unzureichenden Interpretationen basieren meist auf ungenauen Übersetzungen und Substanz-Philosophie. Daher ist eine genaue Übersetzung direkt aus dem Urtext des Sanskrit notwendig, Wort für Wort, Zeile für Zeile.

Das recht Verständnis der Leerheit gilt für die Überwindung des durch Unklarheiten und falsche Doktrinen erzeugten Leidens, also der Doktrin der Schein-Natur und der Schein-Substanz. Die Sichtweise der so verstandenen Leerheit eröffnet damit den authentischen Befreiungsweg Buddhas. Eine Doktrin der statischen und unveränderlichen Eigen-Substanz kann bei genauer Betrachtung überhaupt keine Überwindung von Schmerzen und Leiden ermöglichen. Dazu bedarf des Verständnisses von Veränderungen, des kontinuierlichen Lernens, der Emanzipation und der Befreiung von einer Doktrin der unveränderliche fiktiven Eigen-Substanz oder Eigen-Essenz. Aus dieser Doktrin erwächst dann die falsche Trennung von Subjekt und Objekt.

Oder umgekehrt ausgedrückt: Wenn man die Bedeutung von Leerheit falsch versteht, ist der Befreiungsweg Buddhas blockiert und versperrt. Das heißt, dass die substantialistischen Doktrinen der unveränderlichen, isolierten und ewigen Dharmas (Dinge und Phänomene) überhaupt nicht zur Befreiung und Überwindung des Leidens führen können. Diese Doktrinen beschreiben eine Fata-Morgana, Illusionen und Schein-Wahrheiten. Dies umso mehr, wenn sie als absolute aber falsche Dogmen daher kommen. Und Nagarjuna sagt dazu: Wenn man die Leerheit falsch versteht, ist es so als ob man eine "giftige Schlange" falsch ergreift. Einem solchen Menschen sei "nicht zu helfen".

 Die dritte Weisheit:

Die Kraft für den inneren Frieden kommt aus der Mitte. Übertreibungen und isolierte Extreme blockieren Erwachen und Befreiung.

Buddha und Nâgârjuna warnen eindringlich vor allen Extremen, ob im Geist oder bei den Komponenten des Menschen, also den Skandhas. Die Extreme bedeuten vor Allem, dass etwas entweder total existiert oder dass es total nicht existiert. Die weit verbreitete Vorstellung von absoluter Existenz oder Nicht-Existenz destruiert Buddha selbst in einem berühmten Sûtta, weil es solche Extreme in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Das Gleiche gilt für doktrinäre absolute Einheit und Differenz. Derartige Extremvorstellungen und -behauptungen werden durch unseren eigenen fehl geleiteten Geist und unseren unrealistischen Intellekt künstlich erzeugt. Die wahre Natur hat keine Extreme, weil sie dynamisch vernetzt ist. Daher gibt es in der Naturwissenschaft bei genauer Messung keine Korrelation von 0 oder 100 %, nämlich extreme Trennung und extreme Einheit von Funktionen. Dann kann es keine Wechselwirkung geben.

Klare Beweise für die Schädlichkeit von Extrem-Ideologien sind zum Beispiel brutale Gruppierungen, Sekten und politische Strömungen wie in der NS-Zeit und des islamischen IS. Besonders deutlich sind Fehlinformationen bei Fake News von Macht versessenen Politkern wie Trump und Diktatoren. Sie unterscheiden total nach Freund und Feind und vor allem schwarz-weiß Bewertungen. Und sie sind spalterisch aktiv.

Derartige Entweder-Oder Dogmen sind aus meiner Sicht tief in der westlichen Kultur verankert und meistens gar nicht bewusst. Psychische Extreme verbrauchen viel Energie, bringen meistens wenig Information-Mehrwert und erzeugen Unheil. Das wird besonders deutlich im meist sinnlosen Kampf-Modus, der dem Kämpfenden vielleicht ein Helden-Gefühl einbringt, aber wenig Positives bewirkt. Von der Gehirnforschung wissen wir, dass bei derartigen Adrenalin-Ausschüttungen das Frontalhirn abgeschaltet wird. Dadurch wird Vernunft, Abwägung und Ethik ebenfalls ausgeschaltet. Dann kann kein Gleichgewicht der Mitte von Körper und Geist entstehen.

Der Mittlere Weg hat gerade keine Extreme, aber auch keine Mittelmäßigkeit. Beweis: Das japanische Bogenschießen., die Meditation und Kung Fu gelingen nur aus der Mitte! Durch die Mitte und die Vermeidung von isolierten Extremen ergeben sich neue vitale Kräfte und vor allem Möglichkeiten der nachhaltigen eigenen Entwicklung und Emanzipation. Wer aus seiner Mitte heraus lebt, verschwendet keine Zeit und Kraft für wilde Extreme. Er haftet nicht an Gier, Hass und Verblendung, wie es bei Buddha heißt: "Unabhängig lebt er und haftet an nichts in der Welt". Dies ist die letzte Lehre Buddhas und Meister Dogens.

 Die vierte Weisheit:

Die Sehnsucht der Menschen nach der ewigen unzerstörbaren Eigen-Substanz

Auch im Buddhismus hatten sich zur Zeit Nagarjunas also bestimmte Doktrinen und Sekten entwickelt, die der alten menschlichen Sehnsucht gehorchten, dass es im Leben etwas Unveränderliches, Dauerhaftes, Ewiges und Verlässliches geben müsse. Dadurch entstanden ähnliche Doktrinen der Schein-Substanzen wie in der Religion und den Philosophien vor Buddha. So behaupteten zum Beispiel die Sarvastivadins, die Vertreter des Substantialismus, dass die Dharmas als Bausteine des Lebens und der Welt unveränderlich, ewig und von einander isoliert seien. Dies kann aber  der Wechselwirkung Buddhas nicht entsprechen. Der zentrale Begriff dieser Sekte der angeblichen Bausteine der Welt heißt in Sanskrit svabhâva. Dieses bezeichnet unveränderliche, ewige Substanzen, die in sich gleichbleibend und in Ur-Zeiten allein aus sich selbst entstanden sind. Ich verwende dafür den Begriff „doktrinäre Eigen-Substanz“, das ist also eine Schein-Substanz.

Die menschliche Sehnsucht nach Unveränderlichkeit und Ewigkeit führt unweigerlich zu Illusionen, Schein-Wirklichkeiten und Täuschungen. Mit solchen Doktrinen kann es keine Befreiung von Leiden und Schmerzen geben und die Erleuchtung ist nicht zu verwirklichen. Derartige Doktrinen verhindern die genaue Beobachtung von sich selbst, von anderen Menschen und der Umwelt. Je mehr unheilsame Doktrinen im Menschen dominieren, desto größer ist die Gefahr von Verdrängungen und Neurosen. Illusionäre Doktrinen vom Ich verhindern gerade gute Lösungen in schwierigen Lebens-Situationen.

Genau diese Sehnsucht nach einem ewigen unzerstörbaren Selbst hatte Buddha als gefährlich und schädlich erkannt, da es der Wirklichkeit nicht entspricht und zu Leiden und Schmerzen führt. In der Welt und beim Menschen entstehen und vergehen Dinge und Phänomene in Wechselwirkung. Es geht gerade darum, die Veränderungen zur eigenen Befreiung zu nutzen. Dabei muss man der Wirklichkeit ins Auge sehen, um nicht durch Sehnsüchte und falsche Tagträume abgetrieben zu werden. Besonders falsche Gurus und Populisten missbrauchen derartige Sehnsüchte der Menschen und machen sie von sich abhängig. Sie verdecken damit ihre eigenen egoistischen unmoralischen Absichten. Solche Sehnsüchte könne blind machen für das eigene Glück und die eigene Freude. Dann kann sich eine selbst steuernde Kette von Entwicklungen ins eigene Unglück und Leiden verstärken. Buddha und Nagarjuna beschreiben dieses Drama in der sogenannten zwölfgliedrigen Kette zum Leiden und zu Schmerzen.

Nâgârjuna destruiert und falsifiziert solche Schein-Substanzen, die durch Sehnsüchte und Abhängigkeiten gekennzeichnet ist, und zwar unmissverständlich und eindeutig. Er weist nach, dass mit dieser irrigen Sehnsucht, also von Ideologien getrieben, die gesamte Lehre Buddhas zur Überwindung des Leidens und der Befreiung hinfällig wird.

 Die fünfte Weisheit:

Wahres Handeln und Karma ist heilsames Leben. Es befreit von doktrinärem Ballast und erzeugt neue Energien

Für eine gute und heilsame Veränderung des Menschen bedarf es des praktischen Tuns und Handelns in geistiger, psychischer und körperlicher Hinsicht. Im Mahâyâna-Buddhismus wird das Bodhisattva-Handeln genannt. Dieses Handeln ist heilsam für andere Menschen aber auch für uns selbst. Wer in diesem Sinne ohne ideologische Verzerrungen handelt, erfährt also selbst heilsame Wirkungen und hilft außerdem anderen. Wer ohne Eigen-Nutz anderen hilft, gibt nichts weg, sondern gewinnt dazu und ist auch psychisch gut drauf. Diese doppelseitigen Wirkungen sind durch die aktuelle Gehirnforschung voll bestätigt. Das heißt aber, dass wir genau im Augenblick des Bodhisattva-Handeln sofort die gute Wirkung selbst erleben und erfahren. Das hat eine wichtige ethische Komponente, nämlich dass unser Handeln anderen hilft und sie auf ihrem Weg der Befreiung unterstützt. Und das hilft auch uns selbst.

Meister Nishijima bezeichnet auch die Zazen-Meditation als Handeln in der richtigen Sitzhaltung, um sich im Gleichgewicht, in Ruhe und Sammlung zu verwirklichen. Er nennt Zazen daher die erste Erleuchtung. Wenn jemand aber durch Doktrinen von substantialistischer Ich-zentrierter eingebildeter Eigen-Substanz verblendet ist, kann er die gute Karma-Wirkung weder im Augenblick noch in der Zukunft erfahren

Durch aktives und nicht zuletzt bewusstes Handeln können wir unser Leben nachhaltig positiv gestalten, wenn wir nach der buddhistischen Lehre die rechte Sichtweise haben. Dann können wir klar ethisch Richtiges und Falsches unterscheiden. Für das rechte und damit heilsame Handeln sind im Buddhismus die zehn sogenannten Bodhisattva-Gelöbnisse entwickelt worden, mit denen ethisch klares Handeln erleichtert und gebündelt wird. Handeln kann jedoch auch aus egoistischem oder gar verbrecherischem Wollen entstehen und geleitet werden. Das wird vor allem durch falsche Doktrinen gesteuert und durch den Glauben an ein grandioses Ego. Daraus wird deutlich, dass nicht alles und jedes Handeln im buddhistischen Sinne unterstützend und nützlich für den eigenen und fremden Befreiungsweg ist.

Im Buddhismus haben die sogenannten Früchte des Handelns, also die Ergebnisse, eine hohe Bedeutung. Hier warnt Nâgârjuna in aller Klarheit, dass eine falsche Doktrin von Schein-Substanzen dem buddhistischen Handlungsprozess schadet oder ihn sogar sinnlos macht. Das Handeln verkehrt sich in sein Gegenteil, wie etwa bei den national-sozialistischen oder radikal-islamischen Ideologien. Auch das naive dinghafte und starre Verständnis dieser Früchte führt in die Sackgasse. Mit einer solchen Doktrin kann es nicht gelingen, den Achtfachen Pfad zu beschreiten, die Faktoren der Erleuchtung zu verwirklichen und nachhaltige Befreiung zu erlangen.

 Die sechste Weisheit:

Nirvâna ist die wirkliche Befreiung hier und jetzt, genau in diesem Leben

Nirvâna ist keine total andere Welt, in die die Eigen-Substanz des Menschen wie ein Produkt irgendwann nach unendlich vielen Wiedergeburten in unendlicher Zukunft in grenzenlosem Glück eingeht. Das kann eine typisch unrealistische Doktrin sein, die das jetzige Leiden nicht überwindet und es nicht gegenstandslos macht, sondern ins Unrealistische wegführt. Buddha und Nâgârjuna vertreten in aller Klarheit die Wirklichkeit von Prozessen und Funktionen der Veränderung, Befreiung und Emanzipation in diesem Leben. Nicht zuletzt dadurch gelingt die Befreiung hier in diesem Leben. Dadurch kommen das Leiden und die wegführenden Verirrungen zur Ruhe, wie es in der Präambel des MMK heißt. Das abrupte doktrinäre Umschlagen von substanzhaftem Leiden in wiederum substanzhaftes unbegrenztes Glück ist Illusion und geht meist nach hinten los! So etwas gibt es in der Wirklichkeit nicht. Es handelt sich um ein doktrinäres extremes Konstrukt des Geistes, also falsches Schwarz-Weiß-Denken.

Es geht um das große Lebensziel der Befreiung des Menschen in diesem Leben im Hier und Jetzt. Nâgârjuna nennt diese Befreiung Nirvâna und distanziert sich damit von dem Glauben, das Nirvâna sei in einer jenseitigen transzendenten Welt zu finden, die total verschieden von der hiesigen realen Welt der Leiden und Sehnsüchte ist. Wenn wir also das Nirvâna in diesem Leben verwirklichen, dann verwirklichen wir hier und jetzt den großen Frieden, und zwar in Ruhe und im Handeln.

Wir befreien uns dann aus dem fatalen Kreislauf des selbst erzeugten Leidens und der hektischen Aktivitäten. Der heutige digitale Stress und der aufgeregt Kampf-Modus werden überflüssig. Oder kurz gesagt: Die buddhistische Lehre und Praxis geben uns die Möglichkeit, uns jetzt in diesem Leben so weiterzuentwickeln, dass wir ein freies Leben führen können, wie wir es wollen. Dann entwickeln wir eine effiziente Selbst-Steuerung. Dies ist gleichzeitig ein gutes und freudiges Leben, das die unnötigen und oft selbst erzeugten Hemmnisse überwunden hat. Besonders bei lebenswichtigen Entscheidungen erkennen wir dann den rechten Weg in die Zukunft, durch klare unaufgeregte Präsenz im Augenblick. Das ist die gute Wechselwirkung der eigenen Erinnerungen mit der Gegenwart und den Erwartungen der Zukunft.

Ein solches Leben hat Buddha durch die Sieben Faktoren der Erleuchtung authentisch und verlässlich beschrieben. Wir sollten uns im Hier und Jetzt vor den wegführenden  Illusionen eines grenzenlosen himmlischen Lebens hüten, in dem andauerndes unbedingtes Glück und unendliche Glückseligkeit herrschen. Sie werden fragen, warum nicht. Antwort: So etwas darf nicht zu schädlichen Verdrängungen führen. Wir werden auch zukünftig mit Problemen konfrontiert sein, aber wir können unnötiges Leiden durch die buddhistische Praxis und Lehre vermeiden. Dann wird das Leben insgesamt besser, das kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen

 Die siebte Weisheit:

Die zwölf Glieder der großen Befreiung und wie das Leiden wirklich schrittweise zur Ruhe kommt

Nâgârjuna schließt mit der genauen Analyse des praktischen und geistigen Befreiungsweges den fundamentalen Zyklus des MMK ab. Er ebnet damit den Weg zur Bereinigung des authentischen Buddhismus und dessen weiterer Entwicklung. Er nennt zwölf Glieder und Phasen der menschlichen Entwicklung in Wechselwirkung, an deren Anfang der „umhüllte“ Mensch steht, verblendet von Unwissen und unheilsamen Doktrinen. Ein solcher Mensch hängt dem Substanz-Glauben an, ist also in der Doktrin der Eigen-Substanz gefangen. Er kann daher seine mögliche Lebensdynamik nicht entfalten. Die formenden Kräfte auch des Unbewussten bewirken dann Erstarrung und Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung.

Ein unwissender Mensch, der in unreflektierten unheilsamen Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien gefangen ist, geht einen zwangsläufigen unheilsamen Weg des Lebens. Dieser Weg kann immer mehr ins Unheil und Leiden führen, Schritt für Schritt. Es handelt sich im Buddhismus um eine Kette von zwölf Phasen in die Unfreiheit und oft ins Chaos. Dabei wiederholen sich fatale Zyklen, die durch immer wieder gleiche Probleme entstehen und sich zu großem, meist unnötigem Leiden auftürmen.

Umgekehrt gibt es in jeder Phase und bei jedem Schritt unseres Lebens die reale Möglichkeit der Emanzipation und Befreiung von einer solchen Zwangsläufigkeit. Dann verschwinden Leiden und Elend zunehmend aus unserem Leben. Wir gehen auf dem Weg der zunehmenden Freiheit. Die jeweilige vorherige Phase erzeugt die Anschluss-Qualität für eine positive weitere Entwicklung der folgenden Phasen. Der Teufelskreis des sich wiederholenden Elends ist aufgelöst. Die äußeren negativen Kräfte verlieren ihre steuernde Kraft. Plötzlich ergeben sich neue heilsame Alternativen. Mut und Hoffnungen in die Zukunft nehmen zu und geben Sicherheit und Vertrauen zu sich selbst.

Nâgârjuna fasst im Kapitel 26 diese beiden grundsätzlich möglichen Abläufe des menschlichen Lebens der Befreiung oder der unfreien Abhängigkeit vom Leiden zusammen. Von großer Bedeutung sind dabei Aussagen, in denen die Befreiung von Anhaftungen, vom Ergreifen schädlicher Doktrinen und Dogmen der Eigen-Substanzen, des Egoismus und der narzistischen Selbstüberhöhung beschrieben werden. Mit der Befreiung aus der fatalen negativen Vorprogrammierung wird der unheilsame Verlauf des Leidens durchbrochen. Das ist Erwachen und Erleuchtung. Dann verwirklicht sich die Buddha-Natur, nicht zuletzt bei der Meditation, im Flow der sinnvollen Arbeit und beim Handeln nach dem Bodhisattva-Ideal.

Für jeden Menschen gibt es diese Möglichkeiten tiefgreifender Befreiung, um das  Erwachen aus Dumpfheit und geistigem Gefängnis zu realisieren. Fundamental sind dabei die rechte Sichtweise und die rechten Entscheidungen sowie die weiteren sechs Bereiche des Achtfachen Pfades, zum Beispiel der Meditation. Es geht letztlich um die Vermeidung der fünf Hemmnisse Buddhas.

Wir erzeugen also selbst die Wurzeln der Freiheit oder der Unfreiheit des Leidens, heißt es im MMK. Daher sind wir nicht passiv Erduldende sondern aktiv Handelnde. Wir schaffen uns den Sinn des Lebens selbst und folgen keinen programmierten einengenden Doktrinen. Wir bringen diese eigenen Wurzeln in die Dynamik der formenden Kräfte ein, die uns entweder zum Glück und zur Freude oder aber zum Leiden und Elend bringen. Nâgârjuna sagt dazu: "Zur-Ruhe-Kommen“ des Leidens, um auszudrücken, dass der große Friede bei gleichzeitigem klarem Handeln verwirklicht wird. Das geht in den sich steuernden Phasen der Kette von zwölf Gliedern.