Samstag, 23. April 2022

Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle (Ikka no myōju)

 


Dōgen bezieht sich in diesem Kapitel auf Worte des großen Meisters Gensa, den er außerordentlich schätzte und dessen Aussage er in diesem Kapitel wiedergibt und kommentiert. Das Leben, das wahre Sein und das Universum werden hier mit einer leuchtenden Perle gleichgesetzt. Damit bringt er etwas sehr Wichtiges zum Ausdruck, nämlich positives sinnvolles Denken, Fühlen und Handeln in unserem Leben. Und dies war damals und ist vielleicht besonders in der heutigen Zeit wirklich ganz wesentlich. Über das Schlechte und Negative in dieser Welt wird sehr viel geklagt, nicht zuletzt in den Medien, und deren dunkle und abgründige Seiten werden häufig beschworen. 

Häufig habe ich den Eindruck, dass unsere Medien die ganze Welt nach Katastrophen und drohenden Problemen absuchen, um Unruhe zu erzeugen und Ängste zu schüren. Das ist aber wirklich keine ausgewogene Berichterstattung! Das ist leider das kapitalistische Geschäftsmodell der meisten Medien: Sie maximieren den Gewinn durch Werbung und benutzen die von ihnen präparierten Informationen um die Anschaltzeit und die Klicks so hoch wie möglich zu treiben. Wie kann man die Information in Deutschland entsprechend präparieren? Antwort: Möglichst viele Ängste und Unsicherheiten mit den Informationen mischen, damit die kapitalistischen Ziele der Anschaltzeit erreicht werden. Davon kann der Buddhismus uns befreien, weil Angst und Gier nach Sensationen, die unwahr sind, zur Ruhe kommen. Viele Medien machen ihre Geschäfte mit unserer Angst und künstlich erzeugte Neugier, das sind aber unsinnige Extreme. Genau dieses Problem hat der alte Meister Gensa damals gelöst: Frei von Fake-Informationen!

Dass Dōgen das Gleichnis der leuchtende Perle außerordentlich schätzte, belegt, dass der Buddhismus alles andere als eine lebensfeindliche und negative Philosophie und Lebenspraxis ist, wie manchmal behauptet wird, sondern dass – ganz im Gegenteil – die Schönheit und der wunderbare Glanz der Welt, der Natur, der Pflanzen und Tiere und des menschlichen Lebens im Mittelpunkt stehen und als die wahre Wirklichkeit erlebt werden. Mit diesen Schätzen und Schönheiten können wir uns ein sinnvolles Leben gestalten.

Dies bedeutet aber nicht, dass die dämonischen Seiten der Welt verschwiegen oder verdrängt werden. In dem Kapitel „ Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit“ beschreibt Dōgen zum Beispiel, dass es „von Natur aus“ gar kein Unrecht im Universum gibt, sondern dass Unrecht von den Menschen erzeugt und hinzugefügt wird. Dann ist es leider tatsächlich vorhanden und kann nicht wegdiskutiert werden. Es ist daher ganz unsinnig, dass dem Buddhismus manchmal das Kennzeichen „Nihilismus“ angeheftet worden ist. Dies ist vielleicht auch auf den falsch verstandenen Begriff der Leerheit zurückzuführen, der dem Westen zunächst ganz unverständlich war und nihilistisch interpretiert wird. Eine leuchtende Perle kann wirklich nicht als Symbol einer pessimistischen Grundeinstellung zum Leben und zur Welt bezeichnet werden und kann auch nicht dafür herhalten, dass „alles Leben nur Leiden ist“, wie dies manchmal als buddhistische Sichtweise behauptet wird. Im Sūtra der Achtsamkeit („Große Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit“) heißt es aber im Kapitel der vier Wahrheiten: „Dies ist das Leiden“. Es handelt sich um zwölf Bereiche des Leidens, die von Gautama Buddha im Folgenden aufgezählt und beschrieben werden. Und genau dies Leiden sind gemeint. Es gerade keine All-Aussage. Es gibt dort also keine Aussage über die Universalität des Leidens. Aber Buddha vertuscht auch nicht, dass es schwieriges Leiden gibt und zeigt uns erprobte Wege, wie wir uns von unnötigem Leiden befreien.

Dass es in der Welt viel Kummer, Gram und Ängste gibt, kann und soll also nicht bestritten werden. Im Gegenteil, es wird ja in den vier edlen Wahrheiten gerade der Weg aufgezeigt, wie man das vorhandene Leiden vermindern oder sogar überwinden kann.

Die runde Form wie die Perle ist im Buddhismus oft ein Symbol für ein harmonisches und ausgeglichenes Leben und für das Universum. Diese Rundheit wird nicht zuletzt wegen seiner Schönheit gerühmt. Ecken und Kanten oder gar Stacheln und Borsten werden im Buddhismus meist weniger geschätzt. Das Runde des Mondes gilt als der Inbegriff der Schönheit und Harmonie und so ist auch eine runde Perle Ausdruck für ein schönes, strahlendes und waches Leben. Diese Perle bedeutet also das, was wir häufig als Erleuchtung bezeichnen. Die Perle spiegelt alles leuchtend wider, was um sie herum vorhanden ist, und ist damit mit einem Spiegel vergleichbar, der alles unverzerrt und heilsam reflektiert, was vor ihm erscheint. Sie leuchtet in vielen schimmernden Farben von wirklich ausgesuchter Schönheit. Die Perle ist damit das Symbol der Wirklichkeit.

Eine Perle ist rund wie die Scheibe des Mondes oder der Sonne, aber sie eine Kugel und hat von Natur die Eigenschaft zu rollen und sich zu bewegen. Sie symbolisiert damit eine ganz fundamentale Erfahrung des Buddhismus: die Bewegung, den Wandel und das Handeln. Das Universum und alles in der Natur und im Leben bewegen sich fortwährend, verändern sich unaufhörlich und rollen wie Perlen in einer Schale. Dōgen sagt, dass die Perle sich damit selbst genug ist, so wie sie ist. Der Satz,

„das Universum in den zehn Himmelsrichtungen ist eine leuchtende Perle“,

drückt damit wirklich das Herzstück des wahren Buddhismus aus. Dōgen schätzte Meister Gensa außerordentlich, der diese Worte prägte und in den Buddhismus einführte.

Wer war nun dieser berühmte Meister Gensa? Wir wissen, dass er bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr als Fischer auf einem der großen Ströme Chinas seinen Lebensunterhalt verdiente. Er ließ sich mit seinem Boot gern in der leichten Strömung treiben ließ, während er seinem Beruf nachging. Er war also zunächst kein Mönch, sondern stand mit seinem Beruf fest im sozialen Leben. Er scheint schon damals eine große innere Ruhe, Kraft und Ausgeglichenheit besessen zu haben, und wir können sicher annehmen, dass er weder nach Ruhm noch nach äußere Macht oder Profit strebte. Die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung waren ihm eher fremd. Während er auf dem Strom so dahin trieb, hatte er Gelegenheit, genau zu beobachten und über das Leben, seine Begrenzungen und seine großen Möglichkeiten nachzudenken und nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Diese Fragen sind wohl immer dringlicher und existentieller für ihn geworden. Daher entschloss er sich mit dreißig Jahren, seinen Strom und sein Boot zu verlassen und nach der großen Wahrheit zu suchen. Bis dahin hatte er keine buddhistische Schrift gelesen und verfügte über keine Kenntnis und Erfahrung der Übungspraxis und Lehre des Buddhismus. Er war also ein Laie, dem plötzlich der Sinn des Lebens und das Streben nach verlässlicher Wahrheit wichtiger geworden war als alles andere in seinem bisherigen Leben.

Er machte sich daher auf die Wanderschaft und erreichte schließlich ein Kloster in den Bergen, dass von dem damals weithin gerühmten großen Meister Seppō geleitet wurde. Er wurde in das Kloster aufgenommen und widmete sich mit aller Intensität, Ausdauer und Kraft der Übungspraxis und de Aufgaben im Tagesablauf des Klosters. Es wird berichtet, dass er sparsam und sehr einfach lebte. So besaß er zum Beispiel nur ein einziges Kleidungsstück aus Baumwolle, das er immer wieder flickte, wenn es löcherig geworden war.

Die Kōan-Gespräche zwischen Gensa, der später selbst Nachfolger des Abtes wurde, und seinem großen Meister Seppō sind von überaus treffender Genauigkeit und tiefgehender Bedeutung. Sie sind Höhepunkte und Sternstunden des Buddhismus und dabei niemals abgehoben und abstrakt-philosophisch. Allerdings ist ihre Tiefgründigkeit nicht immer leicht zu erkennen. Sie wurden vielfach überliefert und gehören zu den bedeutendsten Wahrheits-Aussagen des Zen-Buddhismus überhaupt. Dōgen kommt im Shōbōgenzō häufig auf diese beiden großen Meister zu sprechen und erläutert sie mit seinem tiefen Verständnis und seiner umfassenden Erfahrung des Buddhismus.

Der spätere Meister Gensa war allen romantisierenden, weltfernen Schwärmereien abgeneigt, und kann fast als nüchtern und pragmatisch benannt werden. Er zeichnete sich durch eine besondere genaue Beobachtung der Wirklichkeit und unterscheidet immer in größter Klarheit zwischen Ideen und Bildern einerseits und der beobachtbaren Wirklichkeit andererseits. Seine Gesprächsbeiträge dringen zum Kern der jeweiligen Frage vor und verlieren sich nicht in Phantasien, die, wie es im Shōbōgenzō an anderer Stelle heißt, wie „Blüten in den Himmel wachsen“.

Das Gleichnis der Perle zeigt, dass Meister Gensa nicht nur die äußere und materielle Sichtweise beobachtet und beschreibt, sondern auch poetische Kraft und Schönheit vermitteln konnte. Zu Recht werden seine Aussprüche und seine mit seinem eigenen Meister Seppō geführten Dialoge so hoch gerühmt, die oft in Form eines Kōans formuliert sind

Gensa praktizierte unter seinem Meister Seppō mit aller Kraft und Ausdauer Er wollte aber eines Tages das Kloster verlassen, um wieder auf Wanderschaft zu gehen und andere buddhistische Meister kennen zu lernen. Er wollte die buddhistische Lehre vertiefen und erweitern. Es wird berichtet, dass er nach dem Verlassen des Klosters noch nicht weit gekommen war, als er mit seinem Fuß in den offenen Sandalen heftig gegen einen Stein am Wege stieß und große Schmerzen an dem verletzten Zeh hatte, der stark blutete. Bei diesem plötzlichen schmerzhaften Erlebnis hatte er eine vollkommen klare intuitiv-ganzheitliche Eingebung. Es schoss ihm durch den Kopf: „(Im Idealismus wird gesagt, dass) dieser Körper nicht wirklich existiert, woher kommt dann der Schmerz?Gleichzeitig erkannte er, dass es ganz sinnlos war, erneut auf Wanderschaft zu gehen und nach irgendetwas Entferntem zu suchen. Das große Wahre ist genau hier und jetzt und nicht in der Ferne, Vergangenheit oder Zukunft! Er kehrte daher sofort um und ging wieder zu seinem Meister, und wurde später dessen Nachfolger. Er verließ das Kloster danach nicht mehr: Die große buddhistische Wahrheit suchte er nich mehr woanders.

Sein Meister Seppō fragte ihn, warum er denn zurückgekommen sei, und er antwortete: „Letztlich kann ich mich nicht von anderen täuschen lassen.“ Er erklärte, dass die eigene Erfahrung der Wirklichkeit maßgeblich sei, unabhängig davon, was andere sagen und lehren. Selbst erleuchtete Meister wie Seppo können zwar die eigene Erfahrung anregen aber nicht ersetzen. Wenn im Buddhismus manche fälschlich behaupten, dass der Geist unabhängig vom Körper existiere und nur der Geist Wirklichkeit habe, ist das nicht einmal die halbe Wahrheit, denn sie verbleibt im theoretischen Idealismus. So wurde es dem Mönch Gensa im Gegensatz dazu durch den Schmerz blitzartig klar, dass dies zu wenig ist und nicht richtig sein kann. Sein Meister Seppō war von dieser einfachen, präzisen Aussage tief beeindruckt und rühmte Gensa anderen gegenüber außerordentlich. Denn durch den Schmerz hatte sich sein Geist plötzlich erweitert und die bisherigen Denk-Fesseln abgeworfen. Seppō freute sich besonders, dass sein Schüler nicht nur diese große Klarheit und Einheit von Körper und Geist intuitiv erkannt hatte, sondern dass er dies auch außerordentlich treffend in Worte fassen konnte.

Es wird weiter berichtet, dass Gensa nach einer gewissen Zeit des Lernens und der Übungspraxis das große Erwachen erlebte, also Erleuchtung erlangte, und dass er. Aals er selbst Meister geworden war, lehrte seine Schüler den Buddhismus mit dem Satz:

„Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist eine leuchtende Perle.“

Als ihn eines Tages ein Mönch fragte, wie er und die anderen Schüler dies überhaupt verstehen sollten, antwortete Meister Gensa ihnen:

„Was nützt es dir, dies zu verstehen?“

Damit wollte er sagen, dass mit dem intekktuellen Verstand allein die konkrete Wahrheit der leuchtenden Perle nicht erfasst werden könne und dass die Schüler sich bemühen müssten, über das begriffliche Denken hinaus zu gelangen.

Sein Satz über die leuchtende Perle und das Universum muss von jedem Menschen auf das eigene Leben, die eigene Erfahrung und den eigenen buddhistischen Weg angewendet werden. Erst dadurch entfaltet er seine Weisheit und Kraft zur Verbesserung des eigenen Lebens. Denn auch eine derartig großartige, aber allgemeine Aussage birgt die Gefahr, sich lediglich im Denken festzusetzen, gedanklich aufgenommen und als abstrakte Lehre vielleicht nur auswendig hergesagt zu werden. Dies dürfte aber gerade Meister Gensa selbst ganz fremd gewesen sein, der allen romantischen Phantasien über die Lehre Buddhas ablehnend gegenüberstand und immer durch eigenes Erleben zur Wirklichkeit durchstoßen wollte.

In diesem Sinne fragte er denselben Mönch an dem folgenden Tag:

„Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle, wie verstehst Du das?“

Als der Schüler dann wortwörtlich die frühere Antwort seines Meisters wiederholte, sich also dessen Aussage genau gemerkt und auswendig gelernt hatte, sagte der Meister:

„Ich sehe, dass Du Dich sehr anstrengst, um in die Höhle eines Dämons in einem schwarzen Berg zu gelangen.“

Diese Kōan-Geschichte, die zunächst recht eigenartig anmutet, zielt, so Nishijimas Roshi im Shinji Shōbōgenzō, auf das begriffliche und unterscheidende Denken, also auf Ideen im Sinne der idealistischen dualen Lebensphilosophie. Dieses Denken ist die Höhle des Dämons in einem schwarzen Berg!

Dōgen erläutert, dass man das Universum nicht nur materiell-physikalisch deuten dürfe. Aus der Welt der Ideen zur konkreten Wirklichkeit vorzustoßen bedeutet also keinesfalls, dass man in einem simplen, materiellen Welt- und Lebensverständnis hängen bleibt. Damit wäre wenig gewonnen. Es geht nach Dôgen auch nicht nur um Maßangaben für die Größe oder die Form, ob etwas z. B. eckig oder nicht.

Begriffe und Ideen sind aber auch nicht leichtfertig abzulehnen, denn ohne sie gäbe es die buddhistische Lehre und die Kommunikation in der Sangha überhaupt nicht. Man muss sie als solche erkennen und nicht mit der Wirklichkeit selbst verwechseln. Denn die Wahrheit des Lebens und Sterbens geht über die Begriffe, Ideen und Gedanken hinaus. Erst dann erscheint die unmittelbare Wahrheit des Lebens und Sterbens. Ein Begriff, eine Idee oder ein Gedanke kann also auf die Wirklichkeit hinweisen, aber er ist nicht die Wirklichkeit selbst. In gleicher Weise kann man auf den Mond zeigen, und dieses Zeigen entspricht dem Begriff oder der Idee, aber der Mond selbst ist die Wirklichkeit und Wahrheit. Sprache und Ideen haben eine hohe Bedeutung in der menschlichen Kultur, da sonst überhaupt keine Verständigung, Dialog und kein kulturelles Leben möglich wären. Aber sie haben ihre Grenzen und dürfen nicht als eigenständige Wahrheiten verstanden werden, sondern weisen lediglich auf die Wirklichkeit und Wahrheit hin. Und mit Sprache und sozialer Kommunikation kann viel Unheil angerichtet werden, um Menschen zu dogmatisieren und zu verdummen. Es ist das große Verdienst des Buddhismus, dies in aller Klarheit herausgearbeitet zu haben. Besonders die Zazen-Praxis ermöglicht, die unablässig kreisenden eigenen Gedanken zum Stillstand zu bringen. Auf diese buddhistische Kernlehre hat vor allem Meister Gensa hingewiesen.

Das eigentliche Erleben und Erfahren und die unmittelbare Wirklichkeit eröffnen sich je im gegenwärtigen Augenblick und lassen sich nur sehr begrenzt in Denkprozessen über die Vergangenheit und in Annahmen über die Zukunft erfassen. Man kann das Leben und die Wirklichkeit nicht vollständig mit dem Verstand begreifen, sondern diese Wirklichkeit ereignet sich im Augenblick der fortlaufenden Bewegung, die auch das Universum kennzeichnet. Diese Bewegungen und Vernetzungen haben in sich ein besonderes Gleichgewicht. Sie sind daher nicht statisch, aber auch nicht labil. Dies können wir Menschen besonders in der richtigen Haltung der Zazen-Praxis erleben. Dann ist das vegetative oder autonome Nervensystem bei uns ebenfalls im Gleichgewicht, wie Nishijima Roshi betont.

In diesem stabilen Gleichgewicht löst sich vor allem die Vorstellung eines isolierten Ich auf, denn wir sind ja unauflösbarer Teil der nicht endenden Bewegungen und Vernetzungen des Universums: Daher sagen Buddha und Nargarjuna als zentrale buddhistische Weisheit: "Geinsames Entstehen in Wechsel-Wirkung" ist das wichtigste Prinzip der Welt und besonders des Lerbens. Dies gilt unabhängig davon, ob wir immer wieder mit großer Energie versuchen, uns selbst durch die Konstruktion eines gedachten Ichs abzugrenzen, zu schützen oder andere anzugreifen und uns über sie zu erheben. Diese fundamentalen Irrtümer, die das Leiden vergrößern und gemäß dem Buddhismus überwunden werden können, müssen dabei allerdings „vorsichtig angegangen“ werden, wie Nishijima Roshi lehrt. Die großartige oder pompöse Absicht, das eigene Ich mit aller Gewalt zu töten, ist überhaupt nicht sinnvoll, denn dies bewirkt eigentlich immer das Gegenteil. Dann besteht die Gefahr, dass das Ich sich nämlich dadurch isoliert, einkapselt, verhärtet und unberechenbar wird. Wer kennt nicht die maskierten Machtkämpfe zwischen angeblichen milden Buddhisten?

Dōgen schätzt das wunderbare Gleichnis der Perle von Meister Gensa außerordentlich. Er ist fest davon überzeugt, dass es zentrale Bedeutung der buddhistischen Lehre ist und sich immer mehr verbreiten wird Die Wirklichkeit gibt es nur im Jetzt der Gegenwart. Diese Gegenwart hat sich zwar aus der Vergangenheit entwickelt, aber die Vergangenheit selbst kann nur gedacht und nicht erfahren werden. Der Körper-Geist ist die Perle des Jetzt, der Wirklichkeit und der Wahrheit.

Dabei ist es nicht nötig, sich den Zeitablauf als eine Kette von einzelnen getrennten Perlen vorzustellen, denn es geht um die intuitive, klare Erfahrung der leuchtenden Perle des Jetzt jeweils in der Gegenwart. Dieses Modell ist zudem in Gefahr, den philosophischen Fehler der Sautrantika zu machen, die derartige isolierte Zeit- und Substanz-Elemente behaupteten und vom Meister Nagarjuna ganz klar falsifiziert wurden. Dieses Jetzt dehnt sich im ganzen Universum aus, hat keine absolute Unterscheidung von Ich und Universum und strahlt einen wunderbaren, leuchtenden Glanz aus, der typisch für eine Perle ist. Deshalb sagt Meister Gensa: „Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle.“

Damit wird deutlich, dass der obige Mönch, der mit dem Verstand und aus dem Gedächtnis heraus die Aussage Meister Gensas verstehen will, mit ungeeigneten intellektuellen Methoden arbeitet. Er kämpft vergeblich in dem „schwarzen Berg“ gegen sein intellektuelle Einseitigkeit. So wichtig und nützlich die Vernunft für viele Bereiche des Lebens ist, so wenig ist das duale und wortabhängige Denken in der Lage, die volle Wirklichkeit unmittelbar und umfassend zu erfahren. Dōgen sagt, dass man das eigene Licht nach innen wenden solle. Dabei sind die buddhistische Lehre und Praxis reale Wirklichkeiten, wie die leuchtende Perle.

In dieser Wirklichkeit sollten wir uns Dōgen zufolge von starken bewertenden Gefühlen freimachen, ganz gleich ob sie angenehm oder unangenehm, wünschenswert oder abstoßend, heiß oder kalt sind. Denn der Glanz und die Wahrheit der einen Perle übersteigen dies alles bei weitem. Und alle Extreme sind nach Nagarjuna unwahr und gefährlich. Sie sind durch die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung kontaminiert! Das ganze Universum und die glänzende Perle sind für Dōgen das wahre Auge und der Kern des Buddhismus, sie sind das umfassende Universum als wahrer Körper der Wirklichkeit. Dieser Satz von der leuchtenden Perle umfasst das ganze Universum sei ein helles, glänzendes Leuchten.

Es gibt im Buddhismus verschiedene tiefgründige Geschichten über die Perle. In einer Geschichte schenkte zum Beispiel ein reicher Mann seinem heruntergekommenen Freund eine Perle und nähte sie in sein ärmliches Gewand ein. Dieser bemerkte die Perle erst nach vielen Jahren und wurde dadurch gerettet. Der große Rhythmus des Lebens besteht nach Dōgen darin, eine Perle zu schenken und eine Perle zu empfangen. Der legendäre heilsame schwarze Drache trägt in der chinesischen Mythologie eine wertvolle Perle unter seinem Kinn. Und im Lotos Sūtra schenkt der König einem hoch verdienten Menschen als Dank eine Perle. Die leuchtende, rollende Perle ist für Dōgen ein wunderbares Gleichnis für das Leben, das strahlend und schön ist und das wir mit dem der tiefen Weisheit Buddhas lieben sollten. Dadurch können wir die verengten, festgefahrenen Gedanken und Ideen überwinden und von unnützen Bewertungen und vor allem Beurteilungen wie Verachtung oder Ablehnung ablassen. Die Farben und das Licht der Perle haben kein Ende und sind gleichzeitig „die Tugend des ganzen Alls“.

Dōgen betont schließlich, dass wir die Enge der eigenen Person durch das Gleichnis und den Satz der glänzenden Perle überwinden sollten. Selbst weniger taugliche Versuche des Denkens und Fühlens zur leuchtenden Perle können sinnvoll sein. Dies umso wirksamer, wenn wir den festen Willen haben, nach der Wahrheit zu streben.