Die beiden ersten Glieder
des Achtfachen Pfades zur Überwindung des Leidens sind die rechte Sichtweise und der rechte
Entschluss. Dōgens Kapitel über den Willen zur Wahrheit hat also eine
direkte Verbindung zum Achtfachen Pfad. Mit einfachen Worten erklärt er die
wichtigen Eckpunkte des buddhistischen Weges, der mit dem festen Willen zur
Wahrheit beginnt und mit dem Bekenntnis zu den drei Juwelen Buddha, Dharma und
Sangha verbunden ist. Die Zazen-Praxis spiele dabei eine ganz wesentliche
Rolle. Dōgen selbst hatte auf seiner langen Suche nach der wahren
buddhistischen Lehre und Praxis in Japan und auch in China viele
Schwierigkeiten zu überwinden, bis er endlich seinen wahren Lehrer gefunden
hatte. Durch die Zazen-Praxis in Wechselwirkung mit der buddhistischen Lehre
fand er schließlich den befreienden Ausweg aus dem Lebenslabyrinth, denn seit
vielen Jahrhunderten war Nāgārjunas Mittlerer Weg auch in China bekannt und
Grundlage des Chan-Buddhismus, den Dōgen im China der Song-Zeit vorfand. Er
macht unmissverständlich deutlich, dass nur in dieser unauflösbaren Verbindung
von Theorie und Praxis, von fundierter Lehre und Zazen, wirkungsvoll nach dem
authentischen Buddha-Dharma gesucht werden kann. Auf diesem Weg verändert sich
der ganze Mensch, es kommt zur Transformation
der Persönlichkeit und zu einer neuen Klarheit psychischer und spiritueller
Zustände und Wechselwirkungen.
Viele Buddhisten hoffen vergeblich, dass sie allein mit einer
idealistischen oder esoterischen buddhistischen Lehre zum höchsten Zustand der
Erleuchtung gelangen könnten. Dies ist aber nach Nishijima Roshi, der sich auf
Dōgen stützt, ein schwerwiegender Irrtum, und ich folge ihm dabei. Es ist
unbedingt erforderlich, auch die Lebensphilosophie der Formen und Dinge, also
die Vielfalt der materiellen Welt, im Einzelnen und differenziert
kennenzulernen und zu erfahren. Außerdem muss dies mit dem Tun und Handeln im
Hier und Jetzt verschmolzen werden, sonst wird man die Befreiung nicht
erlangen.
Die Zazen-Praxis des einfachen Sitzens, ohne sich dabei auf ein
Meditationsobjekt zu konzentrieren, ist nach Nishijima Roshi das Tun und
Handeln in reiner Form im Hier und Jetzt. Es ist die Verbindung von Tun und
Handeln in der Klarheit des Augenblicks. Dann sind Psyche-und-Geist frei von
nur passiv erlerntem Wissen, Vorstellungen und
Ideologien; erstarrte Begriffe sind verschwunden, und alle Extreme verlieren
ihre dogmatische Bedeutung: Mittlerer Weg, Augenblick und lebendiges Handeln
sind nicht getrennt. Ohne Zazen gibt es keinen wahren Buddhismus, hält
Nishijima Roshi fest, und Dōgen beschreibt Zazen als einen Zustand von hoher
Qualität, den er auch als hohes Niveau des Lebens bezeichnet: „Das hohe Niveau
des Zustandes der wirklichen (und wahren) Erfahrung erlaubt keinen müßigen
Augenblick, wenn er (tatsächlich) aktiv ist.“
Dieser Zustand, der später
noch näher beschrieben wird, ermöglicht die aktive und ungetrübte Entfaltung
jedes einzelnen Augenblicks und führt dazu, dass kein einziger Augenblick
sinnlos verschwendet wird. Häufig treiben die Menschen jedoch ihre Aktivitäten
aufgrund falscher und vordergründiger Absichten, von verfestigten Doktrinen
gesteuert und gegen die tiefere Vernunft voran. Dann gehen die Augenblicke der
Wirklichkeit verloren. Die Folgen sind entweder träge Unbeweglichkeit oder
hektische Betriebsamkeit – beim Handeln können dann im Gegensatz zur
Zazen-Praxis die notwendige Ruhe und das innere Gleichgewicht nicht wirksam
werden.
„Zazen eröffnet auf diese
Weise eine wunderbare und mystische Zusammenarbeit mit allen Dharmas (der Welt)
und durchdringt vollständig alle Zeiten, auch wenn es nur ein Mensch ist, der
einen Augenblick lang sitzt“, erklärt Dōgen. Nāgārjuna hat nach meinem
Verständnis bei aller philosophischen Geistesschärfe in den acht Negationen das
Tor zu diesem Zustand und Handeln aufgestoßen. Und Dōgen unterstreicht hier die
Überwindung des Dualismus, wodurch die „wunderbare und mystische
Zusammenarbeit“, also die Wechselwirkung, mit allen Dingen und Phänomenen
(Dharmas) der Welt verwirklicht wird. Der Begriff „Zusammenarbeit“ bedeutet,
dass es sich nicht um passives oder gar träges Herumsitzen und um Zeitvertreib
beim Zazen handelt, sondern um befreites und befreiendes Tun und Handeln.
Dieses ist nach Dōgen nicht mit dem denkenden Verstand zu erfassen, sondern
wird als mystisch und geheimnisvoll bezeichnet und überschreitet das
dualistische und unterscheidende Denken. Aber es ist ein hohes Maß an
psychologischer Vernunft und Achtsamkeit dabei aktiv. Die übliche
Zeiteinteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird im Augenblick der
Zazen-Praxis ebenfalls überschritten.[ii]
Dann folgt ein
überraschendes Zitat im Zusammenhang mit der Suche nach der Wahrheit: „Die
Praxis ist nicht durch das Sitzen selbst begrenzt, sondern sie schlägt den
(großen) Raum an und klingt wie das Anschlagen der Glocke, das sich vor und
nach dem Glockenschlag fortsetzt.“ In diesem Gleichnis wird die Wirkung der
Zazen-Praxis poetisch auf den Punkt gebracht: Wenn wir morgens und abends Zazen
praktizieren, bleibt die Wirkung auch in der Folgezeit erhalten und verleiht
uns Klarheit und Handlungsfähigkeit im Alltag. Nishijima Roshi nennt dies die dauernde Kraft des Zazen: „Der Einfluss der
Zazen-Praxis ist niemals auf die Zeit begrenzt, in der man tatsächlich Zazen
praktiziert.“ Vor allem im Berufsleben treten heute häufig gravierende
Versagensängste auf, umgekehrt führt auch eine Selbstüberschätzung zu
unvernünftigem und der Situation und Sache nicht angemessenem Handeln, was
nicht selten in einem Desaster endet. Beides wird durch den Mittleren Weg und
die Zazen-Praxis in ein kraftvolles und tatkräftiges Gleichgewicht auf dem
praktischen Weg der Wahrheitssuche gebracht. Denn Erleuchtung ist nicht zuletzt
Alltags-Erleuchtung.
Über den Willen zur Wahrheit sagt Dōgen:
„Bei dem Streben nach Buddhas Wahrheit sollten wir
den Willen zur Wahrheit als das Wichtigste ansehen. Menschen, die wissen, was
es mit dem Willen zur Wahrheit auf sich hat, sind (aber leider) selten. Wir
sollten diese (Wahrheit nur) unter solchen Menschen erkunden, die sie klar
erkennen.“
Das heißt, dass die Entscheidung, die Wahrheit wirklich und nachhaltig
zu suchen, in unserem Leben von größter Wichtigkeit ist. Auch Nāgārjuna stellt
diese Suche in der Präambel in den Mittelpunkt, indem er bekannte Begriffe
infrage stellt und destruiert, um nicht in alten, scheinbar gesicherten Bahnen
zu gehen. Sicher haben auch heute viele jüngere Menschen die feste Absicht,
herauszufinden, was wahr und was falsch ist. Sie suchen diese Wahrheit in der
Familie, in der Gesellschaft, auf der ganzen Welt und nicht zuletzt in einer
buddhistischen Gruppe und Übertragungslinie. Häufig erlahmt dieser eigene
Antrieb im Lauf des Lebens jedoch, weil es in der Tat nicht leicht ist, bei
dieser Suche auf die richtige Spur zu kommen, die wirklich weiterführt, und
diesen Weg trotz Hindernissen und Fehlentwicklungen weiterzugehen. Mit dem
Beginn des Lebens als Erwachsener tauchen bei buddhistischen Laien meist viele
ganz praktische Probleme auf, die bewältigt werden müssen. Das Streben nach
Erfolg und dem sogenannten Aufstieg im Beruf, der mit finanziellen und
materiellen Vorteilen verbunden ist, beginnt eventuell, die grundsätzlichen,
tiefergehenden Fragen des Lebens in den Hintergrund zu drängen. Das Lebensglück
wird dann manchmal nur noch mit dem Erwerb materieller Objekte oder
gesellschaftlicher Anerkennung verbunden. Bei Mönchen und Nonnen kommt es
darauf an, dogmatische und zu wenig untersuchte Festlegungen und angebliche
absolute Doktrinen zu vermeiden und sich nicht
mit oberflächlichen Erklärungen zufriedenzugeben. Zen entfaltet seine
umformende Kraft gerade in der Lebenspraxis des Alltags.
Die Suche nach der Wahrheit bedeutet für uns heutige Buddhisten jedoch
keineswegs, dass wir uns in eines der wenigen Klöster zurückziehen, sondern –
so Nishijima Roshi – wir sollten den modernen Buddhismus im Alltag, im Hier und
Jetzt und in der sozialen Verantwortung in der Gegenwart entwickeln und
pflegen. Dabei nimmt die tägliche Übungspraxis einen zentralen Stellenwert ein.
Im Gegensatz zu den schwierigen Lebensbedingungen der Laien im alten Japan und
Indien bleibt heute genügend Zeit, um zu meditieren, den Buddhismus gründlich
zu studieren und so die große Wahrheit zu suchen. Dōgen führt hierzu Beispiele
einiger verantwortungsvoller Minister im alten China an, die trotz ihrer hohen
Arbeitsbelastung Zazen praktizierten und den höchsten Zustand des Erwachens
erlangten. Man denke auch daran, dass in Deutschland in den Haushalten durchschnittlich
pro Tag mehr als vier Stunden der Fernseher eingeschaltet ist. Am Zeitmangel
kann es daher nicht liegen, wenn die Suche nach der Wahrheit und die
Zazen-Praxis vernachlässigt werden.
Dōgen rät uns, einen wirklich überzeugenden Menschen und Lehrer zu
suchen, der die Wahrheit des Lebens klar erkannt und sein Leben deutlich danach
eingerichtet hat. Gleichzeitig warnt er vor solchen Lehrern, die zwar
behaupten, dass sie den Willen zur Wahrheit besitzen, aber in Wirklichkeit nur
auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Man erkenne aber nicht immer sofort, ob
jemand tatsächlich den Weg der Wahrheit suche oder es nur vorgebe. Diese
Gefahren lauern auf unserem Weg und müssen erkannt und bewältigt werden. Auch
mit den tradierten und angeblich ewigen Wahrheiten bestimmter
Übertragungslinien sei mit gebührender Vorsicht umzugehen. Außerdem sollten wir
uns nicht zu sehr auf unsere eigenen subjektiven Vorstellungen und Erwartungen
verlassen, sondern uns dem Gesetz des Universums und der Welt öffnen, das der Buddhismus
in Theorie und Praxis lehrt. Dabei könne es helfen, erklärt Dōgen, sich die
Unsicherheit in der Welt und im eigenen Leben ohne Selbstlüge vor Augen zu
führen, um wirklich tiefer zu gehen und weiter zu forschen. Genau diese Ziele
verfolgt auch Nāgārjuna mit dem MMK.
Der Wille zur Wahrheit steht am Anfang des buddhistischen Weges und ist
der entscheidende Schritt zur Überwindung des Leidens mithilfe des Achtfachen
Pfades. Dōgen hält diesen Willen für unabdingbar, um mit der Praxis und dem Studium der Lehre überhaupt beginnen zu
können und betont:
„Wir müssen nicht unseren eigenen Geist als das
Wichtigste ansehen. Wir sollten das große Gesetz, das der Buddha gelehrt hat,
als das Wichtigste sehen.“
Der Geist ist hier nicht isoliert zu versehen, denn es kommt auf das Tun
und Handeln selbst an und nicht auf eine Selbstbetrachtung, wie wir die Suche
nach der Wahrheit gestalten. Der Schwerpunkt sollte nicht auf uns selbst,
sondern auf dem Buddha-Dharma liegen, Selbstbespiegelung ist die falsche
Achtsamkeit. Daher ist auch eine übergroße Sorge für den eigenen Körper und das
eigene Leben eher hinderlich. Wenn wir uns jedoch so verhalten, wie es im
obigen Zitat beschrieben ist, werden wir „den Dharma bis zum Grund
verwirklichen“, erklärt Dōgen, und dann sei „die Wahrheit Buddhas im Körper
gegenwärtig“.