Samstag, 3. Januar 2015

Kôdô Sawaki : Ein großer Zen-Meister oder ein japanischer Militarist?

(Yudo J. Seggelke mit Eberhard-Gensa Kügler)


Zen-Meister Kôdô Sawaki in der Zazen-Meditation. Historisches Foto ca. 1960


Kôdô Sawaki gilt in Japan und in Zen-Kreisen der ganzen Welt als herausragender Meister der neueren Zeit, er lebte von 1880 bis 1965 und hatte mehrere sehr bedeutende Schüler, u. a. die Meister Taisen Deshimaru, G. W. Nishijima und Kosho Uchiyama. Dieser schreibt über ihn:

"Sawaki war ein alter Zen-Meister: furchtlos und unkonventionell".[1]

Kôdô Sawaki hat auch aus meiner Sicht Hervorragendes geleistet: Er hat die Grundlagen für das Verständnis des wohl wichtigsten Werkes des Zen und des Buddhismus von Meister Dôgen geschaffen: Shôbôgenzô, Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, und er hat der Meditation des Zazen einen zentralen unverzichtbaren Stellenwert auf dem buddhistischen Übungsweg gewiesen. Gerade die Meditation gewinnt unbestritten in unserer heutigen fragmentierten hektischen Zeit immer mehr an Bedeutung.

Der wahre Buddhismus ist nach Dôgen und Nishijima Roshi immer im Einklang mit Ethik: er ist die Einheit der Teilwahrheiten des Idealismus und  Materiellen, dem praktischen Handeln und Erwachen. Es gibt viele gewichtige Stimmen, die Kôdô Sawaki für den zentralen Zen-Meister im Übergang zur Moderne durch das dunkle Zeitalter des japanischen Imperialismus und Nationalismus halten. Er habe den wahren Zen durch diese Zeit gerettet: die Lehre Meister Dôgens, die wahren Berge, Wasser und Kiesel, das Handeln im Hier und Jetzt und das große Erwachen, die Erleuchtung.

Ganz anders schreibt der amerikanische Autor Brian Victoria über Kôdô Sawaki, der in jungen Jahren zum Militärdienst im japanisch-russischen Krieg eingezogen und dabei schwer verwundet wurde:

"Obwohl Kôdô selbst nie mehr an einem Krieg teilnahm, unterstützte er die Einheit von Zen und Krieg auch weiterhin".[2]

Offensichtlich will Brian Victoria mit seinem Buch, englischer Titel: "Zen at War" nach umfangreichen Recherchen vor Ort in Japan der bis dahin wenig untersuchten Verbindung des japanischen Militarismus mit dem Zen auf den Grund gehen. Er will durch drastische Zitate bislang unbekannter oder wenig beachteter Quellen wichtige Zusammenhänge aufzeigen, die den all zu gläubigen Zen-Anhängern sicher nicht angenehm sein mussten: Sein Buch will m. E. aufrütteln oder sogar provozieren. Er will damit eine Seite des Zen aufzeigen, die schwerlich als Buddhismus verstanden werden kann. Daher wählte er den Weg einer einseitig kritischen Beschreibung als Antithese zu einem bis dahin unkritischen Verständnis des Zen. Das ist zweifellos notwendig gewesen und man muss fragen, warum dies erst mit seinem Buch 1997 erfolgt ist.

Wir sind nun aufgefordert, unsererseits zu untersuchen, wo die methodische Einseitigkeit möglicherweise übertrieben wurde oder wo die Kritik zu undifferenziert wurde. Erst dadurch kann ein realistisches und ausgewogenes Bild jener japanischen Epoche aufscheinen und als Grundlage der weiteren Entwicklung auch des Zen im Westen dienen. Denn hierarchische und militaristische Züge sollten wir im Westen wirklich nicht übernehmen, sie sind sicher nicht mit dem Anliegen Gautama Buddhas vereinbar.

Ich möchte hier einige Überlegungen und Analysen speziell zu Kôdô Sawaki einbringen. Ist Brian Victorias Kritik an diesem Zen-Meister vertretbar oder schießt sie über eine valide Darstellung hinaus? Ist der Autor mit seiner Idee der kritischen Darstellung vielleicht seinen eigenen Vorannahmen erlegen und interpretiert die aufgeführten Zitate vor diesem Hintergrund zu einseitig? Unterlaufen ihm deshalb letztlich auch hermeneutische Fehler?

Was sagte Kôdô Sawaki nun selbst zum Krieg:

"Auch ich bin allen Ernstes (als junger Mensch) in den Japanisch-Russischen Krieg gezogen", aber jetzt sehe er ein," dass wir das, was wir da getan haben, besser sein gelassen hätten. Überhaupt ist es besser, von vornherein keine Kriege zu führen".[3]

Das ist das Gegenteil dessen, was Brian Victoria in dem vorgelegten Buch über ihn behauptet und was, sollte es stimmen,  Kôdô Sawaki moralisch sehr belasten würde.

Im folgenden möchte ich nun diese Fragen einer ersten vertieften Analyse unterziehen. Weitere Forschungen sind sicher notwendig. Können wir die Aussagen von Brian Victoria akzeptieren und müssten daher unser Bild von Kôdô Sawaki deutlich ändern?

Was sagt Nishijima Roshi dazu? Er war zwanzig Jahre lang Schüler von Kôdô Sawaki und kannte ihn so genau wie kaum ein anderer. Er nahm 1940 an seiner ersten Sesshin mit ihm teil und sah in Kôdô Sawaki seinen wesentlichen Lehrer:

„Als ich seinen Reden lauschte, war ich tief ergriffen, weil ich zum ersten Mal die wahre großartige buddhistische Lehre hörte“.[4]

Er sagt über Kôdô Sawaki:

„Bereits in jungen Jahren hatte er sich sehr intensiv mit dem Buddhismus beschäftigt, sodass seine buddhistische Lehre außerordentlich genau und auch theoretisch sehr fundiert war. Daher waren seine Dharma-Vorträge umfassend und sehr exakt. Obgleich die Grundlage des Buddhismus bei Kôdô Sawaki eindeutig die Zazen-Praxis bildete, lehrte er auch eine sehr logische philosophische Struktur des Buddhismus“.

Nishijima Roshi weiter:
„Ich denke, dass das wichtigste und hervorragendste Wesensmerkmal bei Meister Kôdô Sawaki vor allem sein vollkommen reines Verhalten darstellte, immer der Wahrheit zu folgen“. Und führt aus: „Ein Mensch, der keine Aufrichtigkeit bei der Wahrheit kennt, kann keinen Zugang zum Buddhismus finden“.

„Wir können mit Sicherheit annehmen, dass Meister Kôdô Sawaki diese grundlegende buddhistische Regel genau kannte und in seinem Leben verwirklicht hat.“

Nishijima schreibt zur Kritik von Brian Victoria:
„Der Amerikaner Brian Victoria [veröffentlichte] ein Buch, in dem er harsche Kritik an Meister Kôdô Sawaki äußerte, weil dieser die Kriegspolitik der japanischen Regierung unterstützt haben soll. Wenn man jedoch das menschliche Verhalten und Handeln von Kôdô Sawaki während des Krieges kennt, so wie ich es selbst erlebt habe, wird ganz klar, dass er niemals in der behaupteten Art und Weise aktiv mit der damaligen Regierung zusammen gearbeitet hat.

Ich bin daher zu dem eindeutigen Schluss gekommen, dass der Autor die Tatsachen im Falle von Meister Kôdô Sawaki verzerrt und unrichtig wiedergegeben hat. Warum Brian Victoria so handelte, weiß ich nicht und ich kann es auch nicht nachvollziehen.“[5]

Nishijima Roshi erzählte mir auf meine Fragen hin 2007 in einem langen persönlichen Gespräch seine eigenen konkreten Erfahrungen mit Brian Victoria. Er habe diesen in Japan mehrere Male getroffen, ohne dass er damals wusste, dass Brian Victoria an einem kritischen Buch über den Zen-Buddhismus im Zweiten Weltkrieg schrieb, denn er war offiziell in der Ausbildung eines Sôtô-Priesters. Er habe aber keine einzige Frage zu Kôdô Sawaki an ihn gerichtet. Er selbst hätte dann auch die kritischen Seiten des Zen beleuchtet.

Es ist in der Tat verwunderlich, dass Brian Victoria einen der wenigen Zeitzeugen und Schüler nicht befragte, als er sich mit Kôdô Sawaki beschäftigte, sondern sich nur auf bis dahin weitgehend ungeprüfte schriftliche Vorlagen stützte. Deshalb muss geprüft werden, ob sie methodisch geprüft und in entsprechend kritischer Weise aus dem Japanischen übersetzt wurden. Ich werde dazu erste Ergebnisse nennen. Die Übersetzung aus dem Japanischen war für ihn als Autor sicher eine Herausforderung, denn kaum jemand im Westen konnte seine Übersetzungen begleiten, denn für Dritte war zur Zeit der Entstehung des Buches ein korrektes Quellenstudium schwierig oder gar unmöglich.

Man muss wohl daraus den Schluss ziehen, dass Brian Victoria nur ein sehr persönliches, interessensgeleitetes Bild von Kôdô Sawaki zeichnen konnte. Da er –wissenschaftliches Neuland betretend und ohne institutionelle Unterstützung erwarten zu können -  kritisches Material für sein Buch sammelte, hatte in Japan kaum jemand davon Kenntnis. Da ich selbst vierzehn Jahre lang sehr eng mit Nishijima Roshi zusammengearbeitet habe und ihn auch persönlich sehr gut kannte, halte ich diese Einschätzung für sehr vertrauenswürdig und begründet.

Besonders umstritten bei den Kritikern Kôdô Sawakis ist sein Verhalten im Russisch-Japanischen Krieg, als er noch sehr jung war. Nishijima Roshi schilderte die wirklichen Ereignisse wie folgt: Seine Einheit sei in einen Hinterhalt geraten und nur durch sein schnelles und mutiges Handeln sei eine größere Gruppe japanischer Soldaten vor dem sicheren Tod gerettet worden. Kôdô Sawaki habe dafür eine besondere Auszeichnung und einen größeren Geldbetrag erhalten; diesen verwendete er später für die Publikation buddhistischer Bücher.  Die Auszeichnung habe er selbst niemals besonders hervorgehoben, weil er sein Handeln für normal angesehen habe, um andere zu retten. Dass er von der Obrigkeit zum Kriegshelden hochstilisiert wurde, sei überhaupt nicht seine eigene Absicht und ihm fremd gewesen.

Ich muss noch einmal wiederholen, dass ich es in der Tat für notwendig und sinnvoll halte, dass die Frage des Zen und des japanischen Nationalismus im Krieg kritisch durchleuchtet wird. Es könnte aber sein, dass Kôdô Sawaki gerade das falsche Beispiel für diese Kritik ist. Wir werden sehen.

Es drängt sich die Vermutung auf, dass sich Brian Victoria zunächst die japanischen Quellen sehr auf seine Thesen fokussiert auswählt und übersetzt, um dann im Falle Kôdô Sawaki moralisch heftig und empört zu kritisieren, ein weniger wissenschaftliches als essayistisches Vorgehen. Möglicherweise war es nicht sein Ziel, ein spannendes und zugleich sachkundiges und valides Buch zum Zen zu schreiben, sondern gezielt zu provozieren und polarisieren, um eine überfällige Diskussion anzustossen. Das kann natürlich Sinn machen, allerdings sollte man bei der einseitigen Kritik nicht stehen bleiben.

Schauen wir uns die vom Autor verwendeten Zitate einmal genauer an.
Brian Victoria zitiert Kôdô Sawaki, der sich auf das Lotus-Sûtra bezieht:[6]

„...alle fühlenden Wesen sind meine Kinder" Weiterhin:" Aus dieser Perspektive betrachtet sind alle Wesen, die existieren, ob Freunde oder Feinde, meine Kinder. Höher gestellte Offiziere sind ebenso ein Teil meiner Existenz, wie ihre Untergebenen. Das gilt auch für Japan und die ganze Welt.“
In diesem Teil über das Lotos-Sutra kann wirklich kein militaristischer Nationalismus entdeckt werden. Kôdô Sawaki spricht das Gleichnis des brennenden Hauses an: Der Vater rettet die spielenden Kinder vor der tödlichen Gefahr der Flammen und schafft es tatsächlich, mit Ihnen ins Freie zu kommen. Damit ist die Freiheit durch den buddhistischen Weg gemeint.

Hat dieser Hinweis vielleicht sogar eine tiefere Bedeutung für das damalige militaristische und imperialistische Japan? Für Nishijima Roshi auf jeden Fall: Er sagte mir sehr klar, dass ohne diesen furchtbaren Krieg Japan wohl nicht die alten unmenschlichen Ideologien und Verhärtungen überwunden hätte. Es liegt nahe, dass Kôdô Sawaki dass selbe ausdrücken wollte: Japan war ein brennendes lebensgefährliches Haus, aus dem die Menschen entkommen konnten und mussten, um eine neue Freiheit zu erlangen. Und genau so entwickelte sich Geschichte nach dem Krieg und der Niederlage Japans. Aber ist das wirklich eine Niederlage im buddhistischen Sinne? Sicher nicht.

Nun kommt aber das entscheidend Zitat nach Brian Victoria:

„Ob man tötet oder nicht tötet, das Gelöbnis, welches das Töten verbietet (wird erfüllt)". Dieser Klammerzusatz von Brian Victoria ist im Original nicht enthalten. 
Das Zitat geht weiter: "Das Gelöbnis, welches das Töten verbietet ist es, das das Schwert führt. Es ist dieses Gelöbnis, das die Bombe wirft. Studiert also dieses Gelöbnis und setzt es in die Tat um“.

Brian Victoria versteht Meister Kôdô Sawaki ausweislich dieses Zusatzes so, dass Töten und Bombenwerfen nach dem buddhistischen Gelöbnis unabhängig vom ethischen Willen des Individuums geschehen und dass der einzelne Mensch dafür keine Verantwortung übernehmen müsse. Das heißt:

Das Gelöbnis nicht zu töten, sei immer erfüllt, ob man tötet oder nicht.

Man könne also beliebig töten oder nicht töten! Dieser Zen basiere gerade auf diesem Paradox, töten und nicht töten sei das selbe. Das ist m. E. ein völlig absurdes Verständnis des Zen, das von Meister Dôgen im Shôbôgenzô selbst radikal kritisiert wird.

(Zudem ist dem deutschen Übersetzer ein Fehler unterlaufen: Im Englischen wird das Wort "precept" verwendet, das für "Gelöbnis" steht. In Deutsch wurde aber "Regel" genommen, das zwar im Lexikon steht, aber buddhistisch nicht richtig ist. Dadurch verschiebt sich die Bedeutung, denn Dôgen betont gerade das jeweils ganz Konkrete der Ethik: für den besonderen Menschen durch sein eigenes Gelöbnis in der konkreten Situation.)

Der Autor Brian Victoria sagt damit nichts anderes, als dass Kôdô Sawaki das Lotos-Sutra und die Gelöbnisse im Sinne des Militarismus so interpretiert, dass jedes Töten im Krieg gerechtfertigt sei.

Dem folge ich nicht, denn damit verkehrt er den Sinn des von Sawaki Geäußerten in sein Gegenteil. Meister Kôdô Sawaki sagt für mich unmissverständlich, dass das buddhistische Gelöbnis, nicht zu töten, auch und gerade im Krieg gilt. Es gelte nicht nur für das Schwert, wie früher, sondern und gerade auch für moderne Waffen im Zweiten Weltkrieg, der bekanntlich in Ostasien mit großer Grausamkeit geführt wurde.

Der Klammerzusatz "wird erfüllt" wurde von Brian Victoria selbst zugesetzt, er ist ganz wesentlich für den Sinn, wie er ihn versteht; aber er ist eigentlich unlogisch und für mich auch unverständlich. Ohne diesen eigenen Klammerzusatz entfällt aber die gesamte Kritik. Es müsste m. E. nämlich ganz einfach heißen: das buddhistische "Gelöbnis, welches das Töten verbietet (gilt immer)". Es gilt also unter allen Umständen, selbst wenn es Krieg ist, der das Töten vielleicht in einer konkreten Situation notwendig macht.

Brian Victorias Interpretation basiert also auf seinem eigenen Zusatz „wird erfüllt“. Ich gehe davon aus, dass dies auch seinem Verständnis entspricht. Diese Formulierung gibt es allerdings im Original nicht. Aus meiner Sicht wäre es korrekt wie oben zu schreiben: "Ob man tötet oder nicht, das Gelöbnis, welches das Töten verbietet, (gilt immer und überall, selbst im Krieg)". Damit verkehrt sich der Inhalt der Aussage natürlich in sein Gegenteil. Kôdô Sawaki will nach meiner Interpretation sagen, dass auch und gerade im Krieg die buddhistische Forderung ganz allgemein gilt, die das Töten verbietet. Und zwar ganz gleich, ob die Soldaten mit Schwertern oder mit Bomben kämpfen. Das ist besonders wichtig, weil man bei Bomben sein eigenes Töten gar nicht direkt sieht.

Kôdô Sawakis letzter Satz:

Studiert also dieses Gelöbnis und setzt es in die Tat um“

ist danach die direkte Aufforderung an die japanischen Soldaten, gemäß Buddhismus immer human zu handeln und sich des eigenen buddhistischen Gelöbnisses immer bewusst zu sein, dass man eigentlich nicht töten darf. Dies ist im Übrigen das erste und zentrale der buddhistischen Gelöbnisse. Dadurch macht Kôdô Sawaki deutlich, dass auch und gerade im Krieg so viele Leben wie möglich gerettet und geschont werden müssen. Dies ist für mich besonders überzeugend, da er den Krieg und das Töten als junger Soldat selbst erleben musste!

Durch den Klammerzusatz von Brian Victoria, der im Original nicht vorhanden ist, entsteht der Eindruck, dass auch beim Töten das Gelöbnis erfüllt ist, dass man nicht töten darf. Das ist für mich logisch nicht richtig, da das persönlich abgelegte Gelöbnis nach wie vor gilt und in Kraft ist, es kann selbst in schwierigsten Situationen nicht negiert werden und wir tragen auch im Krieg dafür Verantwortung. Auf der Grundlage seines eigenen Klammerzusatzes entwickelt Brian Victoria dann seine fundamentale Kritik an diesem großen Zen-Meister. Die Kritik basiert in diesem Fall also auf dem Zusatz des interpretierenden Autors; ohne diesen wird die Kritik gegenstandslos.

Resümee´ dazu: Aus meiner Sicht sagte Kôdô Sawaki ganz klar, dass die japanischen Soldaten im Sinne des Buddhismus auch im Kriege die buddhistischen Gelöbnisse soweit es irgend möglich ist, einhalten sollen, um nicht zu töten. Dass dies eventuell von vielen japanischen Soldaten ganz anders gehandhabt wurde, war sicher auch Kôdô Sawaki bekannt. Vielleicht hat er sich gerade deswegen so klar dagegen geäußert.

Nun soll ein weiteres Zitat Brian Victorias genauer analysiert werden. Dabei steht die Aussage Nishijima Roshis wieder eindeutig im Gegensatz zum Autor, so dass wir uns auch hier um Klärung bemühen müssen.

Es geht dabei um das Kapitel 92 von Dôgens Shôbôgenzô (Schatzkammer des wahren Dharma-Auges): "Shôji, Leben und Tod". Wesentlicher Inhalt dieses kurzen Kapitels ist es, das Leben im Hier und Jetzt zu führen und uns nicht von Ängsten und dunklen Gedanken an den Tod beeinträchtigen zu lassen, dass der Tod also nicht das Leben behindert. Das Leben sei eine eigene Wirklichkeit genauso wie der Tod, aber beide sollten sich nicht negativ beeinflussen und hindern. Da in Japan 1943 bereits das große Sterben begonnen hatte, ist dies sicher ein ganz wichtiger Hinweis. Nishijima Roshi erzählte mir einmal, dass von seinem eigenen Jahrgang etwa 90% der Männer im Kriege umgekommen seien und er selbst nur deshalb überlebt hat, weil er aus er Mandschurei zur Verteidigung des japanischen Kernlandes zurück nach Japan beordert wurde. Viele seien auch durch Hunger gestorben.

Für jeden nachdenkenden Menschen in Japan war klar, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Die Aufgabe eines Priesters ist es selbstverständlich, in solchen katastrophalen Zeiten des Tötens und Sterbens den Menschen Trost und Rückhalt zu geben, was überhaupt nicht bedeutet, dass man den grausamen Krieg unterstützt.

Wie übersetzt nun Brian Victoria den maßgeblichen Text dieses Kapitels des Shôbôgenzô? Um es vorweg zu sagen: seine Übersetzung und sein Verständnis ist in Fachkreisen stark umstritten. Ich selbst arbeite z. B. mit der Fassung von Nishijima/Cross, die den Inhalt Dôgens unbestritten verlässlich wiedergibt. Diese präzise Übersetzung der wichtigen Passage lautet:

„Wenn wir genau unseren eigenen Körper und unseren eigenen Geist loslassen und sie in das Haus Buddhas werfen, werden sie an der Seite Buddhas ins Handeln gebracht. Wenn wir fortfahren dies zu befolgen, ohne irgendeine Kraft auszuüben und irgendeinen Geist zu benutzen, werden wir von Leben und Tod befreit und werden Buddha“.

Mit diesen Formulierungen ist nach Nishijima Roshi die Zazen-Praxis gemeint, bei der wir nach Dôgen „Körper und Geist fallen lassen“. In diesem Zustand der Meditation gewinnen wir also Klarheit und Zuversicht im Hier und Jetzt, auch und gerade in sehr schweren Zeiten des jederzeitigen Todes.

Wie übersetzt nun Brian Victoria diesen zentralen Text?[7]

„ ....Wenn du der Anleitung, die du erhältst, folgst, wirst du dich von Leben und Tod befreien und ein Buddha werden, ohne dass du dich dazu körperlich oder geistig anzustrengen brauchst."

Diese Formulierung scheint Kadaver-Gehorsam zu fordern, mit der Behauptung, man werde dadurch zum Buddha. Der Sinn ist m. E. etwas ganz anderes: man soll gerade in solchen schwierigen Zeiten Zazen praktizieren und sich der Praxis und Lehre des Buddha anvertrauen, also im Einklang mit Buddha handeln. Brian Victorias eigene Formulierung „ohne dass du dich körperlich oder geistig anzustrengen brauchst“ bedeutet also ganz und gar nicht, dass man den Befehlen des Vorgesetzten blind folgen soll, ganz gleich, was sie beinhalten mögen, sondern das Gegenteil der eigenen Verantwortung und Klarheit im Augenblick. Brian Victorias eigene Formulierung dazu: „Wer dies tut, wird augenblicklich zu einem getreuen Gefolgsmann des Kaisers und zu einem vollkommenen Soldaten“ liegt m. E. vollkommen daneben, weil es sich gerade um die Befolgung der buddhistischen Lehre auch in den schwierigen Kriegszeiten handelt.

Dieses wichtige Kapitel 92 schließt in der allgemein anerkannten Übersetzung von Nishijima:

„Es gibt einen sehr einfachen Weg, Buddha zu werden: kein Unrecht zu tun, ohne Anhaftung an Leben und Tod zu sein, tiefes Mitgefühl für alle Lebewesen zu haben, die Höheren zu achten und mit den Niedrigen Mitgefühl zu haben, frei von einem Geist zu sein, der die tausend Dinge des Lebens ablehnt und frei von einem Geist zu sein, der sie begehrt, einen Geist zu haben ohne (eindimensionales) Denken und ohne Gram: dies wird Buddha genannt. Sucht nichts sonst.

Damit ist für mich ganz klar, was Kôdô Sawaki meinte.

Insgesamt ist es verwunderlich, dass im umfangreichen Literaturverzeichnis dieses Buches Meister Dôgen und das Werk Shôbôgenzô  nicht genannt werden, obgleich der Autor selbst der Sôtô-Linie des Zen-Buddhismus angehört, die Dôgens Werk zur wesentlichen Grundlage hat. Ist das Nachlässigkeit oder Absicht? Dies verwundert um so mehr, weil viele von Brian Victoria in seinem Buch aufgeworfenen Fragen und Unsicherheiten relativ einfach anhand des Shôbôgenzô mit seinen 95 Kapiteln beantwortet werden könnten. Dann würde sich die gesamte Problematik in der Weise verschieben, dass zu fragen ist, warum Dôgens fulminantes Werk insgesamt und im Einzelnen zu wenig bekannt war und warum das Verhalten mancher Japaner im Zweiten Weltkrieg davon radikal abweicht. Aus meiner Sicht wollte Kôdô Sawaki genau dies zum Ausdruck bringen.

Um es noch einmal deutlich zu machen: ich halte es für verdienstvoll, dass Brian Victoria versucht, die teilweise Mystifizierung und Glorifizierung des Zen zu hinterfragen und auch bei berühmten Persönlichkeiten wie zum Beispiel D.T. Suzuki nicht Halt macht. Allerdings ist Kôdô Sawaki nach meinem Urteil der falsche Meister, den er mit seiner Kritik überzieht. Durch ein direktes Gespräch mit Nishijima Roshi hätte er sich sicherlich ein objektiveres Bild dieses großen Zen-Meisters verschaffen können. Warum tat er das nicht? Dadurch wäre sein Buch wesentlich aussagekräftiger, wertvoller und verlässlicher für uns geworden.

In der 2010 herausgekommenen, ebenfalls validen Übersetzung des Shôbôgenzô von Kazuaki Tanahashi heißt der fragliche Text dieses Kapitels zum Vergleich in Englisch[8]

„Just set aside your body and mind, forget about them, and throw them into the house of Buddha; then all is done by the Buddha. When you follow this, you are free from birth and death, and become a Buddha without effort or scheme. Who, then, remains in the mind?

Weiter heißt es dort:

„In birth there is nothing but birth, and in death there is nothing but death. Accordingly, when birth comes, face and actualize birth, and when death comes, face and actualize death. Do not avoid them or desire them“.

Schließlich schreibt er: "This birth-and-death is the life of Buddha“.

Wenn Brian Victoria aus diesem Text die totale Unterwerfung unter den japanischen Kaiser und den Kriegsminister machen will, kann ich dem nicht folgen. Es bleibt allerdings die Frage, ob ihm dieses Kapitels überhaupt vorlag oder er darauf hingewiesen wurde und ob er es eigentlich als Material für sein kritisches Buch nutzen konnte?

Schließlich sollte auch in Betracht gezogen werden, dass in diktatorischen und dogmatischen Systemen zentrale Wahrheiten eventuell so verklausuliert werden müssen, dass sie der Zensur der Obrigkeit entgehen. Wie sicher bekannt ist, gilt dies zum Beispiel in der Mystik für Teresa von Avila und Meister Eckart. Aus meiner Sicht wählte Kôdô Sawaki in Bezug auf Dôgen nicht ein solches indirektes Verfahren: Seine Aussagen sind für mich eindeutig und unmissverständlich, so dass ich überzeugt bin, dass Brian Victoria sich bei der Bewertung der Haltung dieses großen japanischen Zen-Meisters zum Krieg gründlich irrt.



Schlussbemerkung: Brian Victoria hat ein politologisches und kritisch-soziologisches Buch geschrieben, das die historische Situation Japans des Zen im vorigen Jahrhundert selektiv beleuchtet. Dafür gebührt ihm trotz einiger irritierender Fehlinterpretationen und Vereinfachungen Dank. Aber es ist kein bedeutendes Buch zum Zen. Bei allem Fleiß des Autors sind die möglichen Schlussfolgerungen für den Zen-Buddhismus der heutigen Zeit und der Zukunft recht begrenzt. Dazu hätte ein wirklich fundierter Vergleich des damaligen Zen der ausgewählten Meister z. B mit der Praxis und Lehre Meister Dôgens durchgeführt werden müssen. Diese Aufgabe, die an Hand des Shôbôgenzô, der Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und der Befragung von Zeitzeugen wie Nishijima Roshi und anderer, gut machbar gewesen wäre, hätte den Wert des Buches aus meiner Sicht ganz wesentlich erhöht.

Verweise zu spannenden Zen-Texten, bitte anklicken:

Verwirklichung des Lebens und des Universums
Zazen Meditation
Sein-Zeit des Augenblicks
Das große Erwachen
Buddhistische Gelöbnisse Teil 1 
  und Teil 2
Erzeugt kein Unrecht
Leben-und-Tod, die Befreiung im Buddhismus
Lotus-Sûtra


[1] Kosho Uchiyama: Kôdô Sawaki. Die Zen-Lehre des Landstreichers Kôdô. Angkor Verlag 2007
[2] Brian Victoria: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz, Theseus 1999, S.62
[3] Kôdô Sawaki: An Dich. Zen-Sprüche, Angkor Verlag 2002 u. 2005
[4] G. W. Nishijima: Aus meinem Leben. Wirklichkeit und Buddhismus. DONA-Verlag 2010, S. 23 f.
[5] G. W. Nishijima: Aus meinem Leben, Wirklichkeit und Buddhismus, S. 23 f
[6]Brian Victoria: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz, Theseus 1999, S.62
[7] Brian Victoria a.a.O., S. 63
[8] Kazuaki Tanahashi: Treasury of the True Dharma Eye (Shôbôgenzô), 2010, Band 2, Seite 885








Sonntag, 28. Dezember 2014

Empathie und Mitgefühl im Buddhismus


Empathie wird definiert: Die Fähigkeit wahrzunehmen, was in einem anderen vorgeht.

Empathie ist sicher die Voraussetzung, dass Menschen achtsam miteinander umgehen und einander unterstützen und helfen. Ohne Empathie kann Helfen, Mitfühlen und Therapie kaum erfolgreich sein, um das Leiden der Patienten zu lindern oder zu heilen.

Was kann der Buddhismus hierzu beitragen? Gautama Buddha und Meister Nâgârjuna stellen die wechselseitige Vernetzung und das Zusammen-Wirken der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Lebensphilosophie und nennen dies pratitya samutpada. Auf dieser Wirklichkeit basiert ihre ganz praktische Lehre zur Befreiung vom Leiden; oder allgemeiner wie es im Buddhismus heißt: zum Erwachen oder zur Erleuchtung. Daher ist es sinnvoll, zunächst diese Wirklichkeit genauer zu untersuchen, so wie sie ist und wie wir sie verstehen: Wir sind Teil eines wunderbaren lebenden Netzwerkes des Kosmos, das durch Entstehung, Wachsen und Wechselwirkung gekennzeichnet ist. Ohne eine solche Erfahrung der praktizierten psychischen und geistigen Vernetzung kann ein sinnvolles Leben kaum gelingen.

Weiter sagt uns die Evolutionslehre, dass die jetzige Vielfalt unserer Tiere, Pflanzen und der gesamten Ökologie aus primitiven Anfängen entstanden ist und sich immer weiter als ein Gesamtes, also in permanenter Wechselwirkung miteinander , entwickelt hat. Wenn wir diese grundlegende Fakten der Wirklichkeit, in der wir Menschen leben, vernachlässigen, gibt es unausweichlich schwere ökologische Gefahren, Fehlentwicklungen oder sogar Katastrophen, weil wir die Wirklichkeit falsch einschätzen: naiv oder durch Gier getrieben.

Ich finde es fast sensationell, dass bereits Gautama Buddha vor 2.500 Jahren und etwa 600 Jahre später Meister Nâgârjuna diese Vernetzung der Wirklichkeit erkannt und zur Grundlage ihrer Lehre gemacht haben. Wir hatten in der westlichen Welt mit unserer Philosophie diese Fakten nicht richtig erkannt oder zumindest viel zu wenig beachtet: Eine stimmige wissenschaftliche Theorie der Empathie und soziale Vernetzung, insbesondere eine soziale Systemtheorie, gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten. 

Bei den Vorsokratigern der griechischen Philosophie muss fast als Ausnahme Heraklit genannt werden, dessen Arbeiten sich auf Prozesse und Veränderungen bezogen ("Alles fließt"). Soweit bekannt hatte er aber keine Schüler und hat in der Folge auch keine philosophische Schule begründet. Demgegenüber ging der Philosoph Parmenides von dem eher statischen Sein in der Welt aus und hat die westliche Philosophie wesentlich geprägt.

In den früheren archaischen oder mythischen Kulturen wurden göttliche oder dämonische Kräfte monokausal für viele Phänomene der Welt verantwortlich gemacht und als Ursachen für Fehlentwicklungen und Katastrophen verstanden. Mythische Rituale, Zeremonien und Beschwörungen sollten die göttlichen und dämonischen Kräfte günstig beeinflussen, um das Leben erträglicher zu machen und Leiden so weit möglich zu lindern.

Ein ähnliches spirituelles Verhalten können wir bekanntlich auch für das Mittelalter feststellen: die biologischen und katastrophalen hygienischen Ursachen für todbringende Krankheiten wie Pest, Cholera, Typhus, Syphilis und dergleichen waren unbekannt, und der hygienischen Standard, der in der Antike und im Orient durchaus auf hohem Stand war, wurde vernachlässigt oder ganz vergessen. Die reale Wirkung und Vernetzung des ganz konkreten Handelns der Menschen und Lebewesen waren weitgehend unbekannt, oft mit katastrophalen Folgen. Stattdessen wurde an vermeintliche religiöse Sünden der Menschen als Verursachung der Katastrophen geglaubt: die vernetzten Zusammenhänge der Wirklichkeit waren verborgen und eindimensionaler religiöser Idealismus beherrschte den Geist der Menschen.

Mit der Aufklärung, Rationalität und Entwicklung der Naturwissenschaft und der Instrumente der Technik änderte sich die Erkenntnis unserer Welt grundlegend: es wurden natürliche Ursachen und Fehlentwicklungen für viele Phänomene, Gefahren und nicht zuletzt für die Krankheiten der Menschen im fortlaufenden Forschungsprozess erkannt und entsprechende Medikamente und technische Geräte entwickelt.

So beträgt die Lebenserwartung in den Industrieländern gegenwärtig achtzig Jahre und mehr, während sie früher etwa dreißig Jahre betrug. Dies gilt zum Beispiel auch für die Zeit Buddhas und die Zeitenwende von Jesus Christus. Aber der Ansatz des Denkens war überwiegend einseitig: von einer Ursache zur Wirkung, also unidirektional (Joanna Macy), also ohne Rückkoppelung und Wechselwirkung

Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde die Vernetzung und Wechselwirkung von Menschen und Ökosystemen grundsätzlich erkannt und analysiert: Die sich anbahnenden Katastrophen unserer Ökosysteme konnten nicht mehr verleugnet werden.

Es ist umso erstaunlicher, was der indische Meister Nâgârjuna schon vor ca. 2000 Jahren zur Realität der Vernetzung sagte.
Er verwendete den Sanskrit-Begriff pratitya samutpada für dieses großartige Netzwerk des Lebens und der Welt: wörtlich etwa wechsel-wirkendes gemeinsames Entstehen. Zentrale Momente sind dabei also die intensive Rückkoppelung, Vernetzung und die gemeinsame Entwicklung, für den Menschen also Lernen und Wachsen in der Verbindung mit anderen Menschen. Kein Mensch kann wirklich allein existieren und auch nicht wachsen!

Der Neurobiologe Geralt Hüther kennzeichnet in diesem Sinne z. B. die kindliche Entwicklung: Verbindung und Wachsen. Vor der Geburt ist diese Verbindung offensichtlich, denn es gibt nur einen gemeinsamen Kreislauf und die biologische Verbindung von Mutter und Kind durch die Nabelschnur. Wesentliche Verbindungen bestehen selbstverständlich auch psychisch zwischen dem Kind und der Mutter. Nach der Geburt bleiben diese beiden wesentlichen Aspekte Verbindung und Wachsen weiterhin bestehen, werden aber eventuell durch gravierende Störeinwirkungen gehemmt oder verzerrt.

Hüther nennt als Beispiel, dass ein Kind in eine aggressive und egoistische Familie hineingeboren wird, in der ein rücksichtsloser Egoist herrscht. Dass ein Kind sich danach richtet und genau dies lernt, weil es selbst überleben will und muss, liegt auf der Hand. Egoismus, Rücksichtslosigkeit und die Durchsetzung des Stärkeren sind also keinesfalls biologisch oder neurobiologisch vorgegebene Strukturen, sondern werden wesentlich im sozialen Umfeld beim Wachsen erlernt und „eingebrannt“. Das ist gefährliches Lernen ohne Empathie und ohne liebevolle Zuwendung, ja ohne Liebe.

Was kann der Buddhismus zum sinnvollen Zusammenleben beitragen? Gautama Buddha lehrte, dass es anschaulich ist, den Menschen in fünf Komponenten einzuteilen, für die sich auch im Westen der Sanskrit-Begriff Skandha durchgesetzt hat. Diese fünf Skandhas sind: Form und Körper, Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte und Handeln, sowie Bewusstsein. Ähnliche Einteilungen existieren auch im westlichen Kulturkreis. Sie ergeben sich gewissermaßen aus der Natur des Menschen selbst. Gautama Buddha betont jedoch, dass wir uns diese Skandhas nicht als getrennte und getrennte existentielle Einheiten oder Entitäten vorstellen dürfen.

Es sind eher, um einen modernen Begriff zu verwenden, Teilsysteme des Menschen, die nur in der wechselseitigen Vernetzung existieren können. Das ist direkt einleuchtend: Die Wahrnehmung funktioniert z. B. nicht ohne den Körper und geht immer einher mit Gefühlen. Im Leben spielt das Handeln neben oder zusammen mit dem Bewusstsein, eine zentrale Rolle: kein Leben ohne Handeln in Wechselwirkung mit den anderen Skandhas.
Wie kann man diese Zusammenhänge vereinfacht grafisch darstellen?


Auf der Grundlage der Systemtheorie und des Buddhismus habe ich die Abbildung 1 gezeichnet. Sie ist eine Verbindung buddhistischer Weisheiten mit dem heutigen Forschungsstand der Systemtheorie. Es sind zwei „Personen“ A und B dargestellt, die miteinander in Wechselwirkung sind und deren Systemgrenzen eine doppelte Funktion haben: einerseits halten sie die jeweiligen Systeme A und B zusammen und ermöglichen deren inneres Funktionieren und Überleben, auf der anderen Seite sind sie offen und in Wechselwirkung mit einander und mit der vielfältigen Umwelt. Ganz wesentlich ist die Selbstorganisation der Menschen mit ihrer intensiven internen Vernetzung.

Die Umwelt möchte ich hier umfassend verstehen, etwa im Sinne von Niklas Luhmann in seiner allgemeinen Systemtheorie. Es geht also um die soziale, biologische, technische und materielle Umwelt, in die wir eingebettet sind oder besser, mit der wir in dauernder Wechselwirkung leben. Das ist für den biologisch körperlichen Bereich direkt einleuchtend: wir nehmen laufend Nahrung zu uns, um überhaupt lebensfähig zu sein, und scheiden Stoffe, die wir nicht verarbeiten können, wieder aus. Aber eine solche Wechselwirkung darf nicht auf den körperlich biologischen Bereich beschränkt sein, denn wir sind psychisch und sozial nicht lebensfähig, wenn wir isoliert sind und nicht in Wechselwirkung mit Partnern, in der Familie, im Beruf, in verschiedenen Gruppen und schließlich in der Nation und global in der Welt sind. Alle fünf buddhistischen Skandhas sind also jeweils und kombiniert in diese umfassende Vernetzung einbezogen.

Was sind nun zusammengefasst die wesentlichen Kennzeichen, die ich in Abbildung 1 wiedergegeben habe: zum einen gibt es eine Selbstorganisation des Menschen, also eine gewisse Unabhängigkeit von der Umwelt und anderen Menschen, die für die Fortsetzung des Lebens und das Wachsen und Lernen von essentieller Bedeutung ist (auch Autopoiese genannt, vgl. Maturana u. Varela)). Unser Gehirn ist dabei ein ganz typisches Organ, das sich permanent dynamisch selbst organisiert und dadurch erst die zum Überleben und Lernen notwendigen Prozesse ermöglicht.

So werden bei der Wahrnehmung z. B. Lichtstrahlen zunächst durch die Linse des Auges als Bild optisch auf die Netzhaut projiziert und dann in elektrische Impulse umgewandelt. Diese Impulse werden im Gehirn verarbeitet und ermöglichen, dass wir Dinge wiedererkennen, Zusammenhänge sehen und Nützlichkeiten und Gefahren erkennen. Das Gehirn organisiert sich in diesem Sinne mit Hilfe der eigenen Funktionen selbst, also der biologischen und elektrischen Informationsverarbeitung. Dies gilt im Übrigen auch für die Gehirnareale, die für Gefühle zuständig sind, sodass wir sagen können, dass es überhaupt keine Gehirnfunktion gibt, die nicht mit Gefühlen gekoppelt sind. Wie alle Hirnforscher betonen, gibt es immer intensive Wechselwirkungen der verschiedenen Teilsysteme im Gehirn und keine einseitigen Wirkungen nur in eine Richtung. Je höherwertig die geistigen Leistungen sind, desto intensiver ist diese interne Vernetzung. Besonders komplex ist das Handeln, weil die höchsten Ebenen von Werten und Ethik eingebunden ist: ohne Ethik gibt es kein Handeln und keine Interaktion, Handeln ist schwerer als Denken (vgl. auch Manfred Spitzer).

Was passiert nun bei fehlender oder insuffizienter Vernetzung, also deformierter pratitya samutpada?

Fehlende Vernetzung und Wechselwirkung lassen einen Menschen leiden, und dies kann vor allem mit der fehlenden Empathie und dem fehlenden Vertrauen zwischen den Menschen beschrieben werden. In Abbildung 2 ist dieser Zusammenhang schematisch dargestellt: Person A hat sich hermetisch abgeschlossen und isoliert, sodass ihre Systemgrenze für Interaktion und Empathie nicht mehr durchlässig ist. Dies ist durch den durchgezogenen dicken Kreis dargestellt. Entsprechend hat die Person A zwar eine intensive Selbstorganisation, lebt also nur ich-zentriert, fast ohne Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Lediglich „primitive“ Funktionen sind weiterhin aktiv: zum Beispiel die Nahrungsaufnahme und die Ausscheidungen.

Eine Kommunikation, Wechselwirkung und ein gemeinsames Lernen mit der Person B ist daher nicht möglich oder sehr stark eingeschränkt. Das heißt es gibt keine Wechselwirkungen von Form, Gefühl, Wahrnehmung, Handeln und Bewusstsein um die fünf Skandhas (Komponenten) nach Buddha zu nennen. Es handelt sich um einen pathologischen Zustand der Isolation und des Autismus der Person A, die damit erhebliche Probleme und großes Leiden auf sich nehmen muss.

Es gibt auch eine andere Form von fehlerhafter Empathie und Vernetzung:


Diese habe ich schematisch in der Abbildung 3 wiedergegeben. Hier geht es um die rücksichtslose Dominanz der Person A über die Person B, das heißt also, dass B einseitig beherrscht wird und keine Freiheit und Selbständigkeit mehr hat, sie ist der Willkür von A schutzlos ausgeliefert. Das heißt auch, die Ratio und das Bewusstsein von B sind soweit reduziert, dass eigenständige Überlegungen und Entscheidungen nicht mehr möglich sind. Zwischen A und B gibt es keine Empathie und nur eine deformierte Wirkung, die einseitig ist und B in lebensbedrohliche Abhängigkeit bringt: Sei es körperlich, gefühlsmäßig, handlungsmäßig. Auch die Wahrnehmung ist dann weitgehend fremd gesteuert durch die Person A. Leider ist eine solche Situation nicht zuletzt auch in Sekten und bei unfähigen oder unlauteren Gurus zu beobachten!

In dieser Situation dominieren leider die negativen menschlichen und sozialen Energien: Gier, Hass und Verblendung, also die sog. Gifte des Buddhismus. Rücksichtslose Gier erzeugt die nicht mehr steuerbaren Kräfte bei der Person A und beutet die Person B rücksichtslos aus. Ähnliches entsteht durch emotionale Überflutung mit hemmungslosem Hass.

In einem solchen Zustand sind
Empathie, Gelassenheit und spirituelles Gleichgewicht verschwunden.

Das Besondere der buddhistischen Lehre ist nun, dass nicht nur die Person B durch die Beherrschung und Ausbeutung leidet, sondern dass auch A keinesfalls ein zufriedenes, gelungenes und glückliches Leben führen kann: ganz im Gegenteil. A ist getrieben durch die eigene Gier, den eigenen Hass und die Verblendung der eigenen Vernunft, und es kommt nicht zum Wachsen in Wechselwirkung der beiden Menschen. Obgleich dies A vielleicht gar nicht bewusst ist: so lange Gier und Hass vorherrschend sind, entstehen nach Buddha nicht steuerbare Leidens-Energien, die ein zufriedenes Leben unmöglich machen und die Erwachen und Erleuchtung im buddhistischen Sinne total ausschließen. Keine Erleuchtung ohne Ethik.

Nach den Vier Edlen Wahrheiten Buddhas ist es von maßgeblicher Bedeutung, dass diese Verursachung des Leidens zumindest im Wesentlichen erkannt wird und dass die Menschen eindeutig entscheiden, ihr eigenes Leben grundsätzlich zu ändern. Dieses wird im Achtfachen Pfad beschrieben, der sich nicht auf ganz alltägliche Funktionen bezieht, wie Reden, Denken, Handeln, Arbeiten, Ausdauer, Willensfunktionen und vor allem die gründliche Selbstanalyse und Meditation. Buddhas Lehre besagt kurz gefasst: ohne gründliche und offene Selbstbeobachtung und ohne meditatives ethisches Handeln ist eine Befreiung zum glücklichen Leben und zur Überwindung des Leidens unmöglich.

Hier liegt der wesentliche Unterschied zu den Hauptströmungen der westlichen Philosophie, die dem Denken, Reden und Reflektieren allein eine zentrale Bedeutung für ein gutes und gelungenes Leben geben. Dass Reflektion, Denken und rationale Kräfte für ein befreites Leben notwendig sind, wird sicher niemand bezweifeln, diese sind notwendig, aber nicht hinreichend, um es wissenschaftlicher auszudrücken.

Wie kann schematisch nun die geistige und spirituelle Einheit zweier Menschen dargestellt werden?

Im Buddhismus gibt es das Leitbild, dass zwei Menschen nicht mehr getrennt sind, sondern eine Einheit bilden. Dies ist sicher eher spirituell, psychisch und geistig zu verstehen, denn eine totale körperliche Einheit kann es ja nur vor der Geburt und nicht danach geben. Trotzdem kommt diesem Leitbild eine große Bedeutung zu. Ich habe versucht, diese Leitbild als vereinfachte Schema in Abbildung 4 wiederzugeben. Es geht um einen berühmten Ausspruch des buddhistischen Zen-Kôans vom wilden Fuchs und dem Dialog zweier großer Meister (Hyakujo und Obaku, in der japanischen Aussprache, vgl. Shobogenzo, Kap. 76):

Es gibt „einen, nicht zwei“ (Menschen).

Meister Dôgen bezeichnet diesen Ausspruch als die große buddhistische Praxis, bei der Lehrer und Schüler jäh im Augenblick eine Einheit bilden. Der Schüler erlebt das große Erwachen spontan im selben Moment zusammen mit seinem Meister und verwirklicht damit die neue Generation von Zen-Meistern. Dôgen hat die Zen-Geschichte, die auch in zwei anderen Kôan-Sammlungen enthalten ist, in seinem tiefgründigen Verständnis des Buddhismus auf eine ganz neue Ebene gehoben und die transformierende Kraft des Handelns im Augenblick zweier Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Er nennt das die große Praxis.

Nishijima Roshi hält diese Kapital im Shôbôgenzô für zentral. Hier wird also die Empathie zur großen gemeinsamen Kraft, und die „Systemgrenzen“ der beiden Menschen werden praktisch aufgehoben. Mit diesem Schema kann man das in allen spirituellen Linien genannte große Erleben der Einheit kennzeichnen. Die Systemgrenzen zu anderen Menschen und zur Umwelt sind radikal durchlässig und haben ihre abgrenzende isolierende Wirkung verloren.

Résumé: Durch die Verbindung der großen buddhistischen Weisheiten zum Leben und zur Überwindung des Leidens mit den heutigen Erkenntnissen der Empathie und Systemtheorie ergeben sich spannende Übereinstimmungen, die sicher noch vertieft untersucht werden sollten.

Es ist erstaunlich, wie weit die intuitive Weisheit des Buddhismus mit heutigen Forschungsergebnissen übereinstimmt. Ich sehe es nämlich als Fehlentwicklung, wenn Buddhisten sich im Streben nach Erleuchtung und Freiheit nur mit sich selbst beschäftigen und glauben, dass sie sich auf diese Weise von Leiden und Problemen befreien können. Dies ist nur in der spirituellen Verbindung mit anderen Menschen und in der empathischen Wechselwirkung mit ihnen möglich, nur so kann unser Wachsen und Lernen gelingen. Es ist eine fatale Illusion, dass irgend ein Mensch überhaupt isoliert von anderen Menschen und seiner Umwelt existieren kann.

Das gilt gerade für die sogenannten Starken, die eine besondere Verantwortung für die soziale und kulturelle Umgebung haben. Wie ich es an anderer Stelle formuliert habe: „Der Starke ist am schwächsten allein“. Nur das gemeinsame Wir mit lebensfähiger Empathie kann uns weiterbringen, auch und gerade wenn wir noch nicht erleuchtet sind. Und Empathie ist eng verwandt mit Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut: die Himmlischen Verweilungen des Buddhismus.


Montag, 17. November 2014

Was trennt sie wirklich: die Zen-Linien Sôtô und Rinzai?

(Yudo J. Seggelke)

Sicher hätten sich die großen Meister Rinzai (in Chinesisch Lin-chi) und Dôgen gewundert, dass spätere Generationen viele Jahrhunderte lang die trennenden Unterschiede beider Zen-Linien z. T. dogmatisch vertreten würden, anstatt sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren und sich zu ergänzen. Schließlich geht der Zen-Buddhismus gemeinsam auf Gautama Buddha, Nâgârjuna, Bodhidharma und Hui neng (Daikan Enô) zurück. Bestenfalls könnte man eigentlich zugestehen, dass es verschiedene Wege gibt, wie sich der wahre Buddhismus in China, Japan, Korea und heute im Westen entwickelt hat und für welche Menschen welche Linie auf dem Buddha-Weg am besten geeignet ist. Warum also die immer wieder zu beobachtende Abgrenzung? Gerade Dôgen lehnte die Trennung verschiedener buddhistischer Schulen radikal ab (vgl. Kap. 49 des Shôbôgenzô).

Um in dieser zentralen Frage weiterzukommen, müssen wir die Grundlagen heranziehen. Was sind also die wesentlichen Basistexte des Zen-Buddhismus? Zweifellos sind die folgenden chinesischen Kôan-Sammlungen einschließlich ihrer Kommentare und Interpretationen zu nennen:
Mumonkan, Die torlose Schranke,
Bi-Yan-Lu, Aufzeichnungen vor smaragdener Felswand und
Cong-Rong-Lu, Aufzeichnungen aus der Klause der Gelassenheit
Sie umfassen jeweils bis zu einhundert Kôans.

Erst kürzlich wurde dabei die wichtige Kôan-Sammlung Cong-Rong-Lu kompetent ins Deutsche übersetzt und kommentiert. Diese drei Texte werden im allgemeinen wesentlich der Rinzai-Linie zugeordnet. Sie wurden im 12.ten und 13.ten Jahrhundert zusammengestellt und beziehen sich auf die Lehre der sogenannten Alten des wahren Buddhismus der Tang-Zeit, an die in China später in der Song-Zeit wieder angeknüpft wurde, nachdem es Verfolgungen des Buddhismus gegeben hatte. Besonders bedauerlich ist es zudem, dass die Aufzeichnungen vor smaragdener Felswand, Bi-Yan-Lu, von 1128 schon bald nach dem Druck radikal verfolgt und vernichtet wurden, sodass auch der hölzerne Druckstock verloren ging.

Über die Motive der Verbrennungen dieser äußerst wertvollen Basistextes kann heute nur spekuliert werden. Vermutlich wollte ein namhafter Meister verhindern, dass die Schüler die Kôan-Interpretationen auswendig lernten, anstatt sie selbst existentiell durch eigene Erfahrungen und eigene Praxis zu klären und für sich zu erarbeiten. Denn nur mit einer solchen eigenen Arbeit haben sie wirkliche Kraft und sind wertvolle Hilfen für den eigenen Weg zur Befreiung.

Etwa 200 Jahre später wurde aus einer geretteten Version die neue Publikation des Bi-Yan-Lu in China erarbeitet und fand in der folgenden Zeit weite Verbreitung in vielen Zen-Klöstern in China. Auf diese Version gehen in China und Japan spätere Kopien und Kommentare zurück; sie sind seitdem die maßgebliche Textquelle für die Rinzai-Linie und den sog. Kôan-Zen.

Neue Quellen-Forschungen haben nach D. Roloff das erstaunliche fast sensationelle Ergebnis ergeben, dass Meister Dôgen im 13. Jahrhundert die Abschrift von einem geretteten und noch verfügbaren Exemplar des Bi-Yan-Lu auf seiner China Reise (1223 - 1227) aufspürte, kopierte und mit nach Japan brachte. Sie gilt gemäß heutiger philologischer Forschung sogar als authentischer als die in China später verwendete Fassung. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil sie älter und damit näher am Urtext ist. Dôgen nahm diese Kôan-Sammlung also mit nach Japan; sie wurde im Zentraltempel der Sôtô-Linie, Eiheiji, aufbewahrt, erst in neuerer Zeit wieder entdeckt und in die buddhistische Forschung eingebracht. Die Bezeichnung dieser Fassung: „Kopie einer Nacht“ deutet darauf hin, dass Dôgen dieses umfassende Werk in großer Eile vor seiner Abreise nach Japan abgeschrieben hat, wobei es wohl utopisch ist, dass dies in einer Nacht durchführbar war. Dôgen muss also den hohen Wert dieser geretteten Version des Bi-Yan-Lu erkannt haben, denn er hat damals sicher gründlich nach verlässlichen Quellen in China recherchiert.

Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?
Aus meiner Sicht ergibt sich dadurch eindeutig, dass Dôgen die Texte des Bi-Yan-Lu als wesentliche Grundlage für seine eigene Arbeit verwendet hat, und dass diese Fassung also Grundlage seines großen Werkes Shôbôgenzô, die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges gewesen ist. Das Shôbôgenzô ist aber wie bekannt die wesentliche Grundlage der Sôtô-Linie in Japan, die inzwischen auch im Westen weite Verbreitung gefunden hat. Es ist also unsinnig zu sagen, dass Dôgen die chinesischen Kôans nicht kannte und nicht benutzte, das Gegenteil ist richtig.

Wir wissen im Übrigen aus seiner persönlichen Lebensgeschichte, dass er mehrere Jahre mit Kôans unter dem ersten Zen-Meister in Japan, Eisai, gearbeitet hat und sie deshalb nicht nur als Text kannte, sondern mit ihnen intensiv gearbeitet und gerungen hat. So verwundert es auch nicht, dass er selbst eine Zusammenstellung von 301 Kôans herausgegeben hat, die heute die Bezeichnung Shinji Shôbôgenzô (oder Samyakuzoku), tragen. Nishijima Roshi hat sie im Übrigen sehr prägnant übersetzt und interpretiert; sie liegen in englischer und deutscher Sprache (mit Doko Waskönig) vor.

Das Shôbôgenzô enthält in den 95 Kapiteln insgesamt 74 Kôans; es gibt eine beachtlich und unübersehbare Überschneidung mit den Kôans der oben genannten Basistexte. Zum Beispiel behandelt und analysiert Dôgen das Kôan des wilden Fuchses von Meister Hyakujô, das im Mumonkan als Zweites direkt nach dem Kôan Mu und im Cong-Rong-Lu als achtes aufgeführt ist. Er untersucht es detailliert in zwei ganz wichtigen Kapiteln: Kap. 76, "Die große Praxis" und Kap. 89 "Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung"; es ist auch in Shinji Shôbôgenzô enthalten.

Nishijima Roshi hält das Kapitel "Die große Praxis" mit diesem Kôan für zentral im gesamten Shôbôgenzô, da es eine fulminante Verbindung mit allen wichtigen Kapiteln des Shôbôgenzô herstellt. Zum Beispiel mit den Themen: Streben nach der Wahrheit, Zazen-Meditation, die wesentlichen Dimensionen der Wirklichkeit, Geist ist Buddha hier und jetzt, Sein-Zeit des Augenblicks, buddhistische Ethik, Handeln in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt, Erwachen und Erleuchtung und nicht zuletzt Buddha-Natur, die für Dôgen persönlich von existentieller Wichtigkeit war.

Er behandelt in diesem Kapitel nicht zuletzt das wichtige buddhistische Gesetz von Ursache und Wirkung, ohne allerdings explizit auf die Wiedergeburt einzugehen. Aber es gibt Verbindungen zu den Kapiteln: „Tiefer Glaube an das Gesetz von Ursache undWirkung“ und „Karma in den drei Zeiten“ in denen er nachweist, dass die von den Ursachen ausgehenden Wirkungen auch sehr viel später präzise auftreten können. Ich folge dabei dem Sinologen Dietrich Roloff, der betont, dass die Frage der Wiedergeburt im Zen keine primäre Bedeutung hat, anders als in einigen Übertragungslinien des indischen und tibetischen Buddhismus, vor allem aber in der Religion der Upanishaden und im Brahmamismus, also vor dem Wirken Gautama Buddhas. Eine solche Einschätzung ist einleuchtend, da im Zen-Buddhismus die Wirklichkeit des konkreten Hier und Jetzt also die Bedeutung der existentiellen Zeit des Augenblicks im Mittelpunkt steht und nicht eine oft spekulative Zukunft. Schon Buddha hatte gewarnt, sich mit den Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten der Fragen "Was war ich früher" und "Was werde ich sein" zu verzetteln.

Es ist ein Grundpfeiler des Zen-Buddhismus, dass die umfassende Wahrheit und Wirklichkeit im nicht-dualistischen Augenblick erfahren werden kann und dass die Erinnerungen der Vergangenheit eben nur eine gewisse Ähnlichkeit mit der damaligen Wirklichkeit haben. Dasselbe gilt für Erwartungen in der Zukunft, die ebenfalls nicht den Charakter der Wirklichkeit haben. Gerade für die Zukunft sind psychische Faktoren wie Angst, Verzweiflung oder auch Optimismus, Leichtsinn und vorwärts drängende Absichten charakteristisch. Aber beides kann niemals die Wirklichkeit sein, denn alles spielt sich nur im Gehirn des Menschen ab und hat keine direkte Verbindung zur konkreten Wirklichkeit.

Die Kôans haben im Shôbôgenzô zentrale Bedeutung: Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass deren Übersetzung und Verständnis in jedem Kapitel zu den schwierigsten Aufgaben gehört. Dies weiß ich aus eigener Arbeit, weil ich bei der Übersetzung des Shôbôgenzô durch Nishijima Roshi und Gabriele Linnebach viele Jahre intensiv mitgearbeitet habe. Es ist also nicht zu weit hergeholt, wenn man sagt, dass das ganze Werk des Shôbôgenzô wesentlich auf den tiefgründigen Wahrheiten der Kôans aus China basiert. Bei deren Behandlung und Interpretation vermeidet Dôgen jede Seichtigkeit und esoterische Sentimentalität.

Außerdem muss erwähnt werden, dass das Shôbôgenzô dichterisch von hohem Rang ist und damit den authentischen oben genannten Texten ebenbürtig ist. Es geht den Autoren darum, dass die Sprache soweit wie möglich in den spirituellen Raum des Nicht-Sagbaren hineinreicht, ohne dabei die Aussagekraft der Sprache zu überschätzen und mit der Wirklichkeit zu verwechseln

 Man darf niemals Worte und Sprache mit der bezeichneten Wahrheit und Wirklichkeit verwechseln. Durch eine solche sprachliche Kraft gelingt es nämlich, den einfachen linearen Verstand zu überschreiten und durch poetische Formulierungen nicht nur den Verstand, sondern den ganzen Menschen zu erreichen, um neue Energien zur eigenen Veränderung und Befreiung freizusetzen und zu erzeugen.

Es ist also nicht übertrieben zu sagen, dass das gesamte Shôbôgenzô auch eine fulminante Sammlung zentraler Kôans und deren Interpretationen ist.

Dôgen ist ein hochkarätiger Zen-Meister, dem alles Schwafeln, Romantisieren und Fantasieren fern liegt und der die alten Kôans nicht zuletzt auf ihre Glaubwürdigkeit und Form abklopft. Er macht sich geradezu lustig über die Kôan-Geschichte des alten Fuchses von Hyakujô, indem er fragt, wie denn überhaupt die Umwandlung des alten Meisters in einen wilden Fuchs vor sich gehen könne, nachdem der alte Meister angeblich einen schweren Fehler bei der Lehre begangen hat.

Er fragt zum Beispiel, ob der wilde Fuchs sich hinter einem Busch oder hinter einem Stein schon versteckt hatte und darauf lauerte, dass der alte Meister durch seinen Fehler in ihn hinein fährt. Außerdem wird in der Kôan-Geschichte berichtet, dass der wilde Fuchs sich regelmäßig wieder in einen alten Mann verwandelt, der dann dem Dharma-Vortrag des Meisters im Kloster zuhört und danach im allgemeinen verschwindet. Damit wird klar, dass wir das Kôan nicht materiell-körperlich verstehen können; das wäre eine Falle und macht überhaupt keinen Sinn. Um so klarer unterstreicht Dôgen die Bedeutung der Zen-Praxis im Augenblick für die Entwicklung auf dem buddhistischen Weg.

Besonders feinsinnig sind Dôgens Überlegungen, woher der wilde Fuchs überhaupt wisse, dass er 500 mal wiedergeboren wurde, also 500 mal das Leben eines Fuchses zu durchleben hatte und sogar wusste, dass er in einem vorherigen Zeitalter vor langer Zeit ein Meister war, der bei der Interpretation des Gesetzes von Ursache und Wirkung Fehlerhaftes gelehrt hatte. Dies würde nämlich bedeuten, dass der Fuchs sich an seine früheren Leben erinnert. So etwas sei doch nur den voll erwachten Buddhas möglich. Die verblüffende Schlussfolgerung wäre also, dass der Fuchs voll erleuchtet gewesen sein müsse und dass dies wohl keine Bestrafung sein könne, die der alte Meister wegen seines Fehlers zu erdulden hätte: Die volle Erleuchtung als Fuchs kann nun wirklich keine Strafmaßnahme sein. Das wäre im übrigen eine ideelle Erklärung, die auf die buddhistische Theorie und Tradition fixiert ist, und auch das ist eine Falle und macht keinen Sinn.

Dôgen geht also nicht nur den Kern der Kôans mit großer spiritueller Kraft an, sondern er ermutigt uns auch immer, selbst zu überlegen und nichts einfach hinzunehmen, also keiner eindimensionale Wortgläubigkeit zu verfallen. Es geht genau um die große Praxis des Augenblicks: zwei "Menschen": Einer nicht zwei !

Bei genauerer Analyse muss daher festgestellt werden, dass es eine fundamentale Unterscheidung der Zen-Linien von Rinzai und Soto nicht gibt: sie basieren auf den selben Kôans. Dies hat auch Willigis Jäger immer wieder betont, und ich stimme ihm voll zu.

Die authentischen Basistexte der chinesischen Überlieferung, vor allem das Mumonkan und Bi-Yan-Lu, bilden also mit dem Shôbôgenzô eine Einheit, und es sind Texte der Weltliteratur von höchstem Rang. Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir heute verlässliche Übersetzungen sowohl in Englisch als auch in Deutsch besitzen und auf dieser Grundlage den jeweils eigenen Buddha-Weg der existentiellen Erfahrung und Veränderung gehen können.

Allerdings muss auch angemerkt werden, dass verlässliche Übersetzungen des Shobôgenzô erst seit kürzerer Zeit vorliegen: eine ältere Version wird in der Fachwelt eher kritisch gesehen, während die erste vollständige Fassung von Nishijima/Cross in Englisch 1999 vorgelegt wurde. Die entsprechende deutsche Fassung von Linnebach/Nishijima folgte dann mit dem vierten Band im Jahre 2008. Außerdem ist eine verlässliche englische Version unter der Leitung von Kazuaki Tanahashi im Jahre 2010 fertiggestellt worden. Diese Versionen werden in der Fachwelt allgemein anerkannt und sind ein großer Fortschritt bei der Quellenarbeit.

Die Aufarbeitung des Shôbôgenzô ist in den USA schon im vollen Gange. Dieses Werk gilt als dasjenige, das am meisten untersucht und behandelt wird. Auch in Deutschland ist allgemein in Fachkreisen unbestritten, dass Dôgens Texte eine hohe Bedeutung haben. Sie sind allerdings nicht einfach zu erfahren und zu verstehen. Daher habe ich eine Einführung zu allen Kapiteln verfasst, um den Zugang zu erleichtern: "ZEN Schatzkammer"( Bd. 1- 3). Es muss angemerkt werden, dass das Verständnis dieser fulminanten Aussagen hier erst im Anfangsstadium ist. So wurde Dogen beispielsweise auf dem kürzlichen Kongress „Meditation und Wissenschaft“ in Berlin zwar häufig erwähnt, aber meist fehlte die vertiefte Analyse der wesentlichen Eckpunkte. Dôgens Arbeiten zum Zen-Buddhismus sind unbestritten von höchster Bedeutung, sie basieren nicht zuletzt wie in der Rinzai-Linie auf den Kôan-Sammlungen der Tang- und Song-Zeit.

Résumée: Eine Abgrenzung der Zen-Linien von Rinzai und Sôtô erscheint mir künstlich, hergeholt und gefährlich, es gibt dafür keine sachlich belastbaren Fakten. Es geht viel mehr um die wechselseitigen Ergänzungen und Befruchtungen bei diesen bedeutenden Basistexten.


Freitag, 17. Oktober 2014

Wie versteht Dogen die Leerheit des Herz-Sutra?

(Yudo J. Seggelke)

Dôgen verwendet den für das Herz-Sutra und den Mahayana-Buddhismus zentralen Begriff der Leerheit nur im zweiten Kapitel und im Laufe der weiteren 93 Kapitel des Shôbôgenzô nicht mehr. Das ist erstaunlich! Warum geht er so vor?

In diesem fulminanten Gesamtwerk spielt der Begriff der Leerheit also keine herausragende Rolle, wie man eigentlich annehmen sollte. Meine Interpretation dazu:

Dôgen setzt die höchste Weisheit, prajñā-pāramitā, die das lineare bewertende Denken überschreitet, mit der Leerheit gleich und gewinnt damit radikal an Konkretheit und Aussagenkraft für unser Leben hier und jetzt.

Denn zweifellos ist schwer zu verstehen, was im Mahayana mit dem Begriff der Leerheit bezeichnet wurde, weil die Leerheit all zu leicht mit Nihilismus und der Leugnung jeglicher Realität verwechselt wird. Und eine solche Verwirrung ist wegen der häufigen Negationen tatsächlich in verschiedenen Traditionen des Buddhismus zu beobachten. Aber derartigen nihilistischen Negationen wären dem japanischen Zen und chinesischen Chan in der Tat völlig fremd und stünden der Suche nach dem wirklichen Hier-und-Jetzt diametral entgegen.

Im originalen Sanskrit-Text des Herz-Sûtra heißt es:
Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beruhen auf der höchsten Weisheit, die das lineare Denken überschreitet, prajñā-pāramitā, und daher wird diese Weisheit als leer bezeichnet.

Das zweite Kapitel des Shôbôgenzô zum Herz-Sutra verstehe ich als zentrales Verbindungsstück zwischen dem im Mahâyâna viel verwendeten Begriff der Leerheit und dem gesamten Werk des Shôbôgenzô. Oder verkürzt ausgedrückt: Herz-Sutra und Shôbôgenzô beschreiben dieselbe höchste buddhistische Realität, sie sind semantisch identisch. In den folgenden Kapitel des Shôbôgenzô entwickelt Dôgen sein umfassendes Verständnis aufgrund der tiefen Erfahrungen des Buddhismus, die er in Japan, vor allem aber in China erlebt hatte.

Diese Kapitel sind daher insgesamt die konkreten und zugleich tiefgründigen Bereiche dessen, was im Buddhismus als Leerheit bezeichnet wird. Dôgen hat eine solche tiefe Erleuchtung erst in China durch die Verbindung mit der Zen-Meditation erlangen können: In Japanisch Shikantaza, nichts als Sitzen, Körper und Geist fallen lassen.

Dôgens Schriften sind m. E. von einzigartiger Kraft der Sprache für tiefste Erfahrungen des Menschen, die sprachlich eigentlich nicht mehr erfasst werden können. Es geht um die Wirklichkeit und Wahrheit sowie die drei Lebens-Philosophien des Idealismus, Materialismus und des Handelns, die Nishijima Roshi an anderer Stelle eingehend beschrieben hat.

Die weiteren Kapitel des Shôbôgenzô geben also ein umfassendes Bild der buddhistischen Lehre, sie sind identisch mit den verschiedenen Aspekten der Leerheit oder der höchsten Weisheit, die das vergleichende Denken und Bewerten überschreitet. Dazu werden von Dôgen zum Beispiel folgende Themen tiefgründig erläutert, um hier nur einige Beispiele zu nennen:

Die Wirklichkeit dieser Welt als strahlende Perle[1], konkrete Regeln für die Meditations-Halle[2], zentrale Aussagen zum Geist und zur Einheit von Körper-und-Geist[3], mehrere großartige Kapitel über die Natur[4] und die fundamentalen Aussagen der Sein-Zeit als Wirklichkeit im Augenblick und im Hier und Jetzt[5]. Weiterhin gibt er tiefgründige Beschreibungen und Interpretationen des Lotus-Sûtra[6], des umfassenden intuitiven Wissens, der Buddha-Natur[7] und des wahren und reinen Handelns der Buddhas[8]. Zwei wichtige Kapitel zum großen Erwachen oder der Erleuchtung[9] und die Aussagen der Bodhidsattvas des großen Mitgefühls und Helfens[10] zeugen von seiner außergewöhnlichen Erfahrung und Klarheit. Es würde an dieser Stelle zu weit gehen, alle Kapitel vollständig aufzuzählen.

Ich verstehe das Kapitel zum Herz-Sûtra als großartiges Verbindungsstück und Scharnier zwischen der Bedeutung der Leerheit im Mahâyâna-Buddhismus des Mittleren Weges, auch des indischen Meisters Nâgârjuna, und dem gesamten Werk des Shôbôgenzô.

Nun möchte ich eine kurze Interpretation des im Original erhaltenen Sanskrit-Textes des Herz-Sutra geben:

Wir können und müssen die Teil-Wirklichkeiten des Materiellen und Immateriellen, also zum Beispiel der Ideen und Gedanken im Idealismus, unterscheiden, solange wir in der Trennung von Subjekt und Objekt gefangen sind, die uns im normalen Leben geläufig ist. Da im Buddhismus dieser Dualismus in der höchsten Weisheit und in der Leerheit überschritten wird, gibt es eine solche eigentlich künstliche Trennung vom Materiellen und Immateriellen nicht. Sie bilden sozusagen auf der "höheren Ebene" der buddhistischen Weisheit von Körper-und-Geist eine Einheit, ohne dass sie jedoch als Teil-Wirklichkeiten verschwinden.

Im Mahâyâna-Buddhismus wird in aller Klarheit betont, dass wir uns die Welt und uns selbst nicht als getrennte und von einander unabhängige Entitäten wie isolierte Dinge vorstellen dürfen. Das gewaltige lebende Netzwerk dieser Welt, das in Sanskrit pratityasamutpada genannt wird und sich laufend kreativ entwickelt, ist mit der Vorstellung unveränderlicher Entitäten, die als dauerhaft und existent gedacht werden, nicht vereinbar. Daher dürfen die Komponenten des Menschen, Skandhas, die nach Buddha den Menschen ausmachen, nicht als eigenständige Entitäten verstanden werden. Die fünf Skandhas sind: Form, Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte/Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten des Menschen sind also in ihrer Wirklichkeit miteinander vernetzt und bilden ein lebendiges Wirkungsgefüge; nur in der Vernetzung sind sie lebensfähig. Sie sind daher leer von einer isolierten und fiktiven Eigen-Existenz als Entität.

In gleicher Weise macht es keinen Sinn, die Organe und Tätigkeiten der sinnlichen Wahrnehmung, also Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Denkorgan wie unabhängige Entitäten zu verstehen. Ganz falsch wäre es, sie nur materiell und körperlich, also dinghaft zu denken: Das wäre naiver Materialismus. Die Sinnesorgane sind wie die gesamte Wirklichkeit vernetzt, wirken dauernd auf einander ein, sie bilden jeweils dynamische Gleichgewichte, genau das ist Leben. Es gibt daher keine unabhängigen materiellen Entitäten. Es ist sinnlos, Bereiche und Teile eines Netzes zu verdinglichen und zu isolieren. Zudem gibt es im lebenden Netz immer die Einheit von Materiellem und Immateriellem.

In der Lehre des Mittleren Weges des großen indischen Meisters Nâgârjuna heißt es, dass die zentralen Begriffe der buddhistischen Lehre ebenfalls nicht dinghaft als Entitäten verstanden werden sollen: Begriffe sind wie Ideen und Gedanken keine selbständigen Entitäten. Nâgârjuna sagt, dass sie ebenfalls keine unabhängige Eigenexistenz haben, denn die Wirklichkeit existiert nur als das Netzwerk mit seinen Wechselwirkungen und dynamischen Gleichgewichten des Immateriellen und Materiellen.

Im Herz-Sûtra werden in gleicher Weise die buddhistischen Begriffe und Vorstellungen von Unwissenheit, Altern, Tod, Leiden, Ansammlung, Aufhören oder Weg aufgezählt und betont, dass man sie nicht wie Dinge, feste Entitäten oder Ideen etwa im Sinne der Idealisten verstehen darf. Diese Begriffe sind daher als solche zu negieren. Aus meiner Sicht war eine solche Richtigstellung etwa 500 Jahre nach dem Wirken Gautama Buddhas notwendig geworden, weil sich die Lehrinhalte verselbständigt und verhärtet hatten und das Wesentliche des praktischen Weges zum Erwachen und der Vernetzung von pratitya samutpada in den Hintergrund gerückt war. Es ist spannend, dass auch der Westen erst seit einigen Jahrzehnten die Wirklichkeit von vernetzten Systemen vertieft untersucht hat, wie zum Beispiel bei den nunmehr stark gefährdeten Öko-Systemen.

Mit der weiteren Aufzählung im Herz-Sutra, dass es keine Entitäten wie Weisheit, Erlangen oder Nicht-Erlangen gibt, werden Ähnlichkeiten zu den scheinbaren Paradoxien der Kôans deutlich, die etwa 700 Jahre später in China im Rahmen des Chan-Buddhismus entwickelt wurden und die auch Dôgen als Kernaussagen des Buddhismus in seinen Texten verwendet und interpretiert.

Im folgenden Teil des Originaltextes des Herz-Sutra wird zur höchsten Weisheit prajñā-pāramitā übergeleitet, die das lineare und bewertende Denken überschreitet. Die gewöhnlichen Hindernisse des Denkens und Fühlens werden in diesem Zustand außer Kraft gesetzt: verschiedene vielfältige Widerstände, Probleme und Blockaden unseres Körper-und-Geistes. Diese Befreiung wird folgerichtig als höchster Zustand des Nirwana bezeichnet. Nirwana ist nicht etwas Jenseitiges, sondern kann im jetzigen Leben verwirklicht werden. Damit ist die Grundlage und zentrale Aussage Gautama Buddhas herausgearbeitet, dass jeder von uns die Buddha-Natur verwirklichen und zur höchsten Realität erwachen kann.

Gegen Ende des von Nishijima/Cross übersetzten originalen Textes des Herz-Sutras wird der unvergleichliche Zustand des Gleichgewichts und dieses Mantras beschrieben:
„Es kann alle Leiden wegnehmen. Es ist wirklich und nicht leer“.

Hier wird der Begriff leer als Gegensatz zum falschen Verständnis des Nichts im Nihilismus verwendet und dabei auf die große Gefahr hingewiesen, dass auch der Begriff und die Vorstellung der Leerheit sich verselbständigen und verdinglichen kann. Nâgârjuna spricht sogar davon, dass die Leerheit wie eine giftige Schlange gefasst werden muss, damit sie die Menschen nicht vergiften und sogar töten kann. Er will damit sagen, dass der Begriff der Leerheit große Gefahren in sich birgt, wenn er falsch verstanden und verdinglicht wird. Dies sei gefährlicher, als wenn man Leerheit überhaupt nicht erwähnt.

Am Ende des Herz-Sûtras wird das Gleichnis der Überquerung eines Flusses angesprochen: Wenn wir den Buddha-Weg gehen, gelangen wir auf die andere Seite an das Ufer des Erwachens und der höchsten Weisheit, die das dualistische Denken überschreitet, prajñā-pāramitā. Dies ist die höchste Dimension des wahren Handelns und von Körper-und-Geist.

Das ist das Herz des Zen-Buddhismus.







[1] Vgl. Kap. 4, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 54 ff.: "Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle (Ikka no myōju)„"
[2] Vgl. Kap. 5, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 65 ff.: „Wichtige Regeln für die Zazen-Halle der schweren Wolke (Jû-undô shiki) "
[3] Vgl. Kap. 6, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 72 ff.: „Geist hier und jetzt ist Buddha (Soko shin ze butsu))"
[4] Z. B. Vgl. Kap. 9, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 50 ff.: "Die Stimmen des Tales und die Form der Berge (Keisei sanshiki)"
[5] Vgl. Kap. 11, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji))"
[6] Vgl. Kap. 17, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 152 ff.: „Lotos-Sûtra: Die Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke))"
[7] Vgl. Kap. 22, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 192 ff.: „Das Geheimnis der Buddha-Natur (Busshō)"
[8] Vgl. Kap. 23, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 202 ff.: „und reines Handeln der Buddhas (Gyōbutsu yuigi) "
[9] Vgl. Kap. 26, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 231 ff.: „Was ist das große Erwachen oder die Erleuchtung? (Daigo); Kap. 28, ZEN-Schatzkammer, Bd.
[10] Vgl. Kap. 33, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 80 ff.: „. Der Bodhisattva des großen Mitgefühls und des Helfens (Kannon) "