Freitag, 9. Juni 2017

Der Mittlere Weg Nagarjunas: Widerspruch oder Konsens mit moderner Wissenschaft

Die Präambel: Eine Ouvertüre
(Yudo J. Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner)
((Aus meinem neuen Buch "Sternstunden des Buddhismus", bitte Urheberrecht beachten)

Wir möchten Ihnen unsere neue Interpretation des berühmten Mittleren Weges (im Folgenden MMK) vorstellen. Es handelt sich um einen der wichtigsten Basis-Texte des Buddhismus, der allerdings nicht einfach zu verstehen ist und seit vielen Jahrhunderten immer wieder zu Missverständnissen geführt hat. Er ist u. a. der zentrale Grundlagentext für den Begriff und die Bedeutung der Leerheit (Kapitel 24 des MMK, hier nicht behandelt).

Wir sind davon überzeugt, dass diese neuen Erkenntnisse einer wortgetreuen Erst-Übersetzung und der modernen Systemforschung z. B. der Ökologie und Gehirnforschung ein nachhaltig besseres Verständnis als bisher ermöglichen. Etwas zugespitzt kann man sagen, dass Buddha und Nagarjuna ein tiefes intuitives Verständnis derartiger lebender System-Vernetzungen und deren Veränderungen hatten, das bisher zu wenig beachtet wurde. Aber der Buddhismus geht selbstverständlich über eine rein wissenschaftlich Sichtweise hinaus.

In einem folgenden Post werde ich einen wichtige Basis-Text des Zen-Meisters Dôgen  aus seinem großen Werk Shobogenzo vorlegen, der einen erstaunlichen Bezug zur Präambel des Mittleren Weges hat. 

Hinführung
Die Präambel des MMK lenkt unseren Geist und unser Leben auf das große Anliegen Buddhas und Nagarjunas, uns von bisherigen Begrenzungen und Hemmnissen des Leidens zu befreien und uns auf ein erfülltes und kaum erhofftes Neuland des Lebens zu leiten. Ihr Anliegen ist in hohem Maße emanzipatorisch, therapeutisch und kreativ. Dann können wir bisheriges Leiden überwinden und ein neues Leben mit Freude, innerer Ruhe und Gleichgewicht führen. Das bezeichnet Buddha als Erwachen und wir sagen heute meist Erleuchtung.

Als zentrale Verursachung für ein ungutes Leben ist die Fixierung auf erstarrte Ideologien und die Abhängigkeit von Gier, Hass und Unwissenheit zu sehen. Der Kausal-Zusammenhang des Leidens und auch der Freude ist nach seiner Lehre und Erfahrung weitgehend und zunehmend durch unsere eigene Vernunft zu erkennen und durch neue von uns selbst gesteuerte weiterführende Impulse zu verändern. Ein begrenzter Verstand reicht im Gegensatz zur Vernunft nicht aus.[1] Die Klarheit unseres eigenen Geistes in dem wechsel-wirkenden Zusammenhang kann uns dabei den rechten Weg weisen. Das ist ein kraftvoller Weg der Mitte, der ideologische und dogmatische Extreme vermeidet. Dabei müssen die wichtigen Begriffe des Buddhismus einer laufenden durchaus kritischen Analyse unterzogen werden, indem sie auch in Beziehung zu ihrer eigenen Negation gesetzt werden, z. B. Entstehen und Nicht-Entstehen. Mich überzeugt diese Praxis und Philosophie Buddhas und Nagarjunas in besonderem Maße.

Welches ist nun der Weg, den wir zu diesem neuen Leben einschlagen sollten und mit zunehmender Ruhe und mit wachsendem Selbstvertrauen gehen? Nagarjuna will m. E. für den authentischen Buddhismus eine neue belastbare Grundlage und Klarheit zurück gewinnen und gleichzeitig die seit Buddha entstandene positive Entwicklung in Indien integrieren und vital weiterführen. Aber er will auch und gerade die eingetretenen Fehl-Entwicklungen und philosophischen Verwirrungen dingfest machen, einkreisen und einer wirklich radikalen kritischen Analyse unterziehen. Und wir sollten heutiges Wissen der Moderne von Wissenschaft und Philosophie einbringen. Damit gewinnt der Buddhismus neue Klarheit und Dynamik, und das gilt auch und gerade für unsere Gegenwart.

Das gelingt ihm ohne Zweifel dank seines brillianten, geschulten und messerscharfen Verstandes ausgezeichnet wie kaum ein anderer Denker vor und nach ihm. Aber seine Texte sind nicht einfach zu verstehen, sie waren und sind vielfältigen Missverständnissen ausgesetzt. Mit dem MMK wird m. E. das Tor für die große Verbreitung der authentischen buddhistischen Lehre und Praxis über den chinesischen Chan, japanischen Zen und den tibetischen Buddhismus bis hin zur Moderne im Westen geöffnet. Für mich sind die Arbeiten von Nagarjuna nach intensivem Studium von über 17 Jahren des Mittleren Wegs (Madhyamika) und Mahahayana und 47 Jahren des Zen von zentraler Bedeutung. Dieser Weg wäre ohne meinen Lehrer Nishijima Roshi nicht möglich gewesen. Was sind nun die Kern-Aussagen der Präambel, die in den später folgenden Kapiteln des MMK im Einzelnen ausgearbeitet werden?

Im ersten Teil werden acht wichtige buddhistische Begriffe negiert, z. B. „nicht Entstehen“ und „nicht zur Ruhe kommen“. Damit fordert der Autor uns auf, die erstarrten aber eventuell nur oberflächlich oder sogar falsch verstandenen Begriffe radikal in Frage zu stellen, sie waren nicht selten dogmatisch verhärtet und zu Worthülsen oder sogar zum Gegenteil degeneriert. Aber wir sollten uns auch vor der dogmatischen Verhärtung der Negation hüten, sie darf nicht absolut und isoliert verstanden werden. Durch den dialektischen Zusammenhang des positiven und negativen Begriffes wird methodisch jede extreme Einseitigkeit der Bedeutung überwunden und eine inhärente Dynamik des Begriffes selbst in Gang gesetzt.[2]

Leider waren nach Buddha sektiererische Gruppen entstanden, die den authentischen Buddhismus entstellten und sogar vor-buddhistische, magische, dogmatische und absolute Ideologien wieder belebten: Vor allem soll dabei die indische spirituelle Sehnsucht und Philosophie nach Ewigkeit, Einheit, Unvergänglichkeit und Auflösung des Selbst im Einheits-Ozean des Nirvana genannt werden. Das ist recht genau die Religion der Veden mit brahman als das umfassende moralische Ur-Eine und âtman als der daraus entstandene und zugehörige individuelle unveränderliche Wesenskern.

Aber genau diese Philosophie führt nach Buddha zu Missbrauch und Leiden, nicht zuletzt durch die „göttliche“ unauflösbare Koppelung an das unethische indische Kastensystem. Diese ewige Koppelung hatte Buddha ohne Zögern für ungültig und ethisch unvertretbar erklärt und konsequent ausgeschlossen. Der Buddhismus wird von Nagarjuna von solchen Doktrinen entschlackt und zu neuer Kraft und zu neuem Leben erweckt werden. Es geht ihm keineswegs um die totale Ablehnung aller Ansichten, Lehren und Konzepte oder der Wirklichkeit selbst, wie nihilistische Interpreten behauptet haben. Die genannten vor-buddhistischen Lehren werden jedoch klar bezeichnet, die von Buddha als falsch, unzureichend oder sogar gefährlich markiert wurden[3].

Wie lautet die zentrale positive Botschaft des MMK? Die Wirklichkeit der Welt und des Lebens kann durch das „wechsel-wirkende gemeinsame Entstehen, pratitya samutpada“ treffend verstanden und bezeichnet werden. Dabei ist für mich klar, dass die Wirklichkeit niemals wegen ihrer unendlichen Komplexität total verstanden werden kann und es geht darum, sie so gut wie möglich zu verstehen und in die eigene Selbst-Steuerung zu integrieren. Ich halte das Ziel des absoluten Allwissens im Buddhismus für illusorisch und romantisch überzogen. Es ist typisch für die vor-buddhistische Religion. Damit sind die wirklich belastbaren Grundlagen für unseren eigenen Weg der Befreiung, Emanzipation, Weiter-Entwicklung und des Erwachens umrissen.

Dieses Verständnis der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechsel-Wirkung hat eine erstaunlich große Übereinstimmung mit den Ergebnissen der neuesten Gehirnforschung und Öko-Systemforschung. Bisher wurde als Übersetzung überwiegend der verkürzte Begriff „abhängiges Entstehen“ verwendet, den ich jedoch nicht wirklich überzeugend finde. Darauf werde ich noch zurückkommen.

Und weiter: Durch unsere eigene Einwirkung („Wirk-Kraft“) im Geist und im Handeln also durch gewollte und bewusste Veränderungen erreichen wir das „gemeinsame Gelingen in Wechsel-Wirkung“. Das ist ohne Zweifel ein zentraler Schlüssel des Buddhismus, denn damit gelingt ein gutes Leben.

In unserem Leben entstehen vielfache wegführende Fehlentwicklungen, die nach Buddha und Nagarjuna durch die buddhistische Lehre und Praxis zur Ruhe kommen. Sie hemmen und verwirren uns dann auf dem Mittleren Weg nicht mehr, sodass sich unser fast unbegrenztes menschliches Potential entwickelt und genutzt werden kann, ein Potential, das sonst wohl vergeudet würde.

Im Laufe der Argumentation des MMK wird der Begriff der Leerheit als Bezeichnung für die  gemeinsame Wechsel-Wirkung in der Realität ohne schädliche Doktrinen eingeführt. Aber auch der Begriff der Leerheit stiftet oft tiefgreifende Verwirrungen.

Die Leerheit hat etwa folgende Bedeutung: Bezeichnung der Wirklichkeit ohne Mystifizierungen, doktrinäre Verzerrungen, ohne leidenschaftliche Abhängigkeiten und mit unserer eigenen Selbst-Steuerung. Das ist die dynamische „Wirklichkeit wie sie wirklich ist und sich fortlaufend verändert“. Philosophisch gilt: Die Wirklichkeit ohne die Doktrin einer innewohnenden, unsichtbaren und unveränderlichen Substanz (âtman, svabhâva). Die Wirklichkeit ist also leer von einer solchen unsichtbaren ewigen und absoluten Substanz des Selbst.

Die Dynamik der Wirklichkeit ist durch Entstehen, Vergehen, Veränderungen usw. gekennzeichnet. Diese Veränderungen sind Voraussetzungen sowohl für die Überwindung des Leidens als auch die Befreiung, Weiterentwicklung, Emanzipation und Erleuchtung des Menschen. Die Vernetzung und Wechselwirkung der Prozesse und Strukturen der Wirklichkeit sind dabei wichtig. In der Wirklichkeit können wir überhaupt keine Isolation, keine totale Unabhängigkeit und kein Entstehen ohne Wechselwirkung und kein Entstehen nur aus sich selbst heraus erkennen. Dabei ist die Interaktion in der Vernetzung des Ganzen von zentraler Bedeutung.

Bedeutsam ist die konsequente Vermeidung von gedachten oder geglaubten Extremen, das ist der Mittlere Weg. Wir brauchen zudem Klarheit über die Möglichkeiten und Grenzen von Verzerrungen der Sprache und der Vernunft: „Weisheit jenseits der Weisheit“. Dazu gehört auch die Überwindung reiner „gelehrter“ Scholastik und der mathematischen Logik, also des ausschließenden „Entweder-Oder und der totalen Identität“ (wie etwa Aristoteles).
Schließlich ist es ohne die wirkliche Bedeutung der Leerheit nach Nagarjuna m. E. sehr schwer, das MMK und die weitere Entwicklung des Buddhismus zu verstehen.

Übersetzung:
Nicht-zur-Ruhe-Kommen, Nicht-Entstehen.
Nicht-Abschneiden, Nicht-Dauerhaftigkeit.
nicht einen Zweck habend, nicht viele verschiedene Zwecke habend.
Nicht-Ankunft, Nicht-Fortgehen.

Buddha, der vollkommen Erwachte, zeigte das wechsel-wirkende gemeinsame Entstehen in der Welt und den Mittleren Weg zu einem befreiten Leben. Er zeigte das beglückende Aufhören der wegführenden Fehlentwicklungen und Verwirrungen.

Ihn, den besten der Sprechenden und Lehrenden, verehre ich


Erster Teil der Präambel

Nicht-zur-Ruhe-Kommen
Wie zum frühen Buddhismus beschrieben, ist der Kern Buddhas Lehre die Veränderung, Weiterentwicklung, Befreiung des Menschen und vor allem die Überwindung des Leidens. So kommt das Leiden zur Ruhe. Wenn zum Beispiel das auf „Sinnlichkeit gerichtete Wollen“ oder die „Aufgeregtheit und Unruhe“ als Hemmnisse nicht zur Ruhe kommen, kann es den Befreiungsweg des Erwachens für uns nicht geben. Wer nicht darauf vertraut, dass sich diese Hemmnisse kontrollieren und überwinden lassen, sondern daran glaubt, dass sie unveränderliche Phänomene und substanzhafte Entitäten des Menschen sind, dem fehlt der Mut und die Kraft zur eigenen Entwicklung.

Solche Hemmnisse sind vielleicht irgendwann einmal in der frühen Jugend entstanden oder auf äußere Einflüsse zurückzuführen, aber sie sind keine unveränderlichen Merkmale eines angeblich unveränderlichen Kerns der Persönlichkeit. Es ist sicher kein Geheimnis, dass heute viele Menschen resignierend nicht daran glauben, dass es solche Veränderungen zum Positiven geben kann, sodass man zur Ruhe kommen und Gelassenheit in seiner Mitte finden kann. Das eigene Handlungs- und Entwicklungs-Potential bliebe dann ungenutzt und kann sich nicht entwickeln. Besonders fatal ist es, wenn erstarrte konventionelle Weltanschauungen und Doktrinen von den Menschen Besitz ergreifen und sie meinen, dass das Leiden wie Kummer, Jammer, Schmerz, Gram, Verzweiflung usw. grundsätzlich nicht überwunden werden können.
Buddhas Lehre sagt das Gegenteil und nennt Neid, Gier, Hass und Verblendung als Verursachung für einen solchen falschen Glauben der Erstarrung und Dauerhaftigkeit des Leidens. Wenn wir von diesen „Giften“ beherrscht werden, können wir nicht mehr klar denken, sehen, hören, fühlen usw., sodass sogar die sinnliche Wahrnehmung unklar, verzerrt und ideologisch gefesselt ist. Das gilt in noch stärkerem Maße für geistige und psychische Bereiche des Menschen. Buddha sagt in den Vier Edlen Wahrheiten, wie wir uns befeien, zur Ruhe kommen und das Leiden aufheben:

„Eben jenes Durstes restlose von Gier freie Aufhebung, sein Aufgeben, seine Entäußerung, die Befreiung davon, das ohne Grundlage ist.“[4] Der Achtfache Weg wird als praktischer Weg der Befreiung genannt, zum Beispiel rechte Sichtweise, rechter Entschluss usw.

Die Aussage „Nicht zur Ruhe kommen“ scheint gegen den authentischen Buddhismus gerichtet zu sein und im Widerspruch mit ihm zu stehen. Was will Nagarjuna damit ausdrücken? Ich folge dabei Kalupahana[5], der die sektiererische Doktrin einer unsichtbaren, unveränderlichen Substanz in den Phänomenen der Welt benennt, die gerade nicht zur Ruhe kommen kann (Sarvastivadins). Das gilt für etwas, das sich nicht dynamisch verändert.

Nicht-Entstehen:
Wenn man von unveränderlichen Dingen und Phänomenen, dem angeblich ewigen Seienden einer unsichtbaren und inhärenten Substanz in der Welt ausgeht, kann es keine Veränderungen und Bewegungen in unserem Leben geben. Dann kann nichts entstehen und es gibt keinen Entwicklungs-Weg aus dem Leiden der Welt. Bei einer solchen Philosophie und Weltanschauung kann die buddhistische Befreiungslehre gar nicht in der Praxis in Gang kommen, sie bleibt im philosophisch Unverbindlichen und hat keine Wirkung für den Menschen. Bei einer allgemeinen Ideologie des „Nicht-Entstehens“ müssen wir von totaler Isolation des Menschen ausgehen, es gibt dann keine Einwirkung von anderen Menschen, der Umgebung und keine Wechsel-Wirkung.

Aber die buddhistische Lehre kennt auch Lebens-Situationen, in denen bestimmte negative Phänomene gerade nicht entstehen sollen. Zum Beispiel heißt es bei den fünf Hemmnissen zum Übelwollen: Der Mönch erkennt „wie vergangenes Übelwollen künftig nicht mehr entsteht“. Ähnliches gilt für die anderen vier Hemmnisse Aufgeregtheit, Unruhe oder Zweifelsucht. Buddha sagt auch: Wenn Neid, Gier Hass usw. nicht entstehen, so gibt es kein Leiden. Jeder menschliche Entwicklungs-Prozess lässt dagegen neue Kräfte, Freiheiten und kreative Alternativen entstehen. Wer nicht darauf vertraut, kann sich nicht entwickeln und ist eigentlich geistig und psychisch schon halb gestorben.

Gerade die positive Veränderlichkeit ist ein zentrales Merkmal des Menschen, weil er immer etwas Neues verwirklichen kann und sich dadurch Freiräume und Unabhängigkeiten erarbeitet, die anderen Lebewesen, z. B. den Tieren, nur in geringem Umfang oder überhaupt nicht möglich sind. Lernprozesse sind wesentlich Entstehungs- und Erweiterungs-Prozesse und laufen am besten natürlich und mit Freude ab, das wissen wir aus der Gehirnforschung.[6] Es gilt insbesondere für die sieben Glieder des Erwachens: Achtsamkeit, Unterscheidungsvermögen, Energie, Freude, Gestilltheit, Sammlung und Gleichmut. So heißt es bei Buddha von einem solchen Menschen, der diese Glieder des Erwachens entstehen lässt: „Unabhängig lebt er und er haftet an nichts in der Welt[7].

Nicht-Abschneiden:
Alle lebenden Prozesse dieser wirklichen Welt entwickeln sich fort und hören nicht plötzlich auf: Sie verschwinden nicht plötzlich im Nichts. Sie können also zeitlich nicht abrupt beendet werden und es gibt daher kein zeitliches Abschneiden. Auch die in einigen buddhistischen Gruppen gelehrte plötzliche Erleuchtung bedeutet nicht, dass alles Vorherige abgeschnitten ist und etwas total Neues entsteht, sondern dass es sich einerseits um eine kontinuierliche Entwicklung des Menschen handelt, aber dass zusätzlich ein plötzlicher qualitativer Schub der Lebensqualität und Klarheit für die weitere Entwicklung entsteht, der neue Dimensionen eröffnet.

Die buddhistische Lehre des Handelns im Augenblick und der vollen Klarheit der Achtsamkeit bedeutet ebenfalls, dass das Bisherige nicht abrupt beendet ist, sondern dass es sich um Umwandlungen und Transformationen handelt. Bei der Karma – Lehre ist es sicher unbestritten, dass es kein radikales Abschneiden gibt. In bestimmten materialistischen Sekten gab es zudem den Glauben an ein abruptes materielles Ende. Andere Linien lehnten die moralische Verantwortung ihrer Taten ab, sodass nach dem Tun keine Fortsetzung bestehen sollte.

Nicht-Dauerhaftigkeit:
Es gab die Doktrin der unverbundenen isolierten Ereignisse, die aus dem Nichts entstehen und sofort wieder abrupt enden. Sie dauern überhaupt nicht an. Durch irgendeine metaphysische nicht beobachtbare Verbindung sollte dabei die Verbindung zu einer Kette von Ereignissen hergesellt werden (Doktrin der Sautrantika). Nach Nagarjuna entspricht dies nicht der authentischen Lehre und ich folge ihm dabei.

Die bisherigen Ausführungen machen klar, dass es in unserem Leben und in der Welt nichts Ewiges und Dauerhaftes gibt, das beobachtet werden kann. Ewiges unterliegt der Fantasie, Spekulation und dem Glauben und ist oft eine „schöne“ Illusion der Menschen. Aber Prozesse haben auch ein Bestehen, das veränderlich ist und zum Vergehen überleitet.

Nicht den einen Zweck haben und Nicht-Einheit:
Mit dieser Aussage wird m. E. das Extrem der totalen Identität oder des absoluten  all-umfassenden Einen angesprochen. In der vorbuddhistischen Zeit wurde dieses Eine mit Brahman bezeichnet. Die Sehnsucht nach einem solchen Einen bestand aber auch im Buddhismus immer weiter fort und äußert sich sogar in der heutigen volks-buddhistischen Literatur. Es wird aber von Buddha als unrealistisches Extrem abgelehnt und bei klarer Sicht kann es in der Welt nicht beobachtet werden.

Es ist von zentraler Bedeutung für die Steuerung und Entwicklung in unserem Leben, dass wir uns zwar ein erreichbares Ziel setzen und einen übergeordneten sinnhaften Zweck verfolgen, zum Beispiel den Willen zur Wahrheit entwickeln. Es macht Sinn, anderen Menschen durch Bodhisattva – Handeln zu helfen, ohne unser eigenes egoistisches Ich aufzuwerten, also ohne eigene narzisstische Grandiosität zu handeln. Aber wer nur ein einziges fixiertes Ziel verfolgt, neigt zum Extremismus und vernachlässigt die Achtsamkeit des Handelns im Augenblick. Das lehrt auch die Geschichte der meisten Religionen. Man darf sich nicht auf fernliegende ideologische Ziele versteifen, sondern in voller Achtsamkeit im vielfältigen Hier und Jetzt handeln.

Nicht verschiedene Zwecke haben:
Hier wird das andere Extrem angesprochen, dass es totale Differenz und damit unverbundenes Chaos gibt. Im MMK werden also sowohl die totale Identität als auch die totale Differenz als Extreme abgelehnt. Die angesprochene Vielfalt wurde in den entsprechenden Doktrinen so verstanden, dass die Phänomene isoliert und voneinander unabhängig sind. Sie wurden als isolierte Entitäten verstanden, wie etwa unabhängige Atome als Bausteine der Welt. Nagarjuna lehnt solche absolute Differenz ab.

Auch unsere Zwecke und Ziele sollten nicht unabhängig und voneinander isoliert sein, es besteht dabei eine Wechselwirkung. Sie sollten eine gewisse Ordnung und Kohärenz haben und sich nicht radikal widersprechen. Wer die Gewinne des rücksichtslos materiellen Reichtums anhäufen will, kann schwerlich für andere Menschen das Bodhisattva – Handeln verwirklichen und menschliche Offenheit für andere entwickeln. Materieller Egoismus lässt sich mit Empathie für andere kaum vereinbaren, solche Zwecke widersprechen sich, sie zeugen von innerer Gespaltenheit und permanenten Verdrängungen. Und sie machen unglücklich. Es ist ein Irrtum der alten Wirtschaftwissenschaften, dass der Mensch ein egoistischer homo oeconomicos ist, wie die neue Gehirnforschung einwandfrei bewiesen hat.[8]

Der Zen-Buddhismus Dogens legt ein besonderes Gewicht darauf, dass uns unrealistische, unverbundene, absolute Ziele und Wünsche in gefährliche Illusions-Welten führen, die wir als solche oft nicht erkennen

Nicht-Ankunft:
Wenn wir absolute, ewige Substanzen für die Phänomene annehmen, sind diese schon immer in der Welt vorhanden. Für sie gibt es kein Ankommen und kein Weggehen. Das ist natürlich eine weltfremde Ideologie, denn wir können fortlaufende Prozesse des Ankommens beobachten. Dass wir in unserem Leben irgendwo ankommen, zum Beispiel in einer bestimmten Stadt, erscheint uns ganz selbstverständlich. Noch dringlicher ist uns oft das Ankommen in einem geistigen, psychischen oder spirituellen Zustand, wie etwa der Erleuchtung. Warum sollte es das nicht geben, auch wenn immer wieder Illusionen im Spiel sind?

Wie können wir diese Aussage außerdem verstehen? Vielleicht ist es auch eine Verbindung zur Wechselwirkung und zum gemeinsamen Entstehen in der Präambel, pratitya samutpada, angesprochen. Die Wechsel-Wirkung ist immer in zwei Richtungen wirksam und vernetzt, niemals nur in einer Richtung ( nicht uni-direktional)[9]. Durch ein zu simples und vordergründiges Verstehen des Ankommens als Entität wäre der Prozess nach dem Ankommen beendet. Wenn wir in einer Stadt, in einer Gruppe oder sonst irgendwo ankommen, bedeutet das, dass es dort weitergeht und dass das Ankommen nicht das totale Ende der Bewegung und des Prozesses ist. Bei der Wechsel-Wirkung geht es darum, dass eine Rückkopplung zustande kommt und erst dadurch überhaupt sinnvolle Gesamt-Prozesse realisiert werden.

Typisches Beispiel dafür ist unser eigenes Gehirn, das neuronale Netz, das in intensiver Wechsel-Wirkung durch die Areale und Moduln miteinander verbunden ist und mit den Input-Informationen von außen unsere bewussten und unbewussten Gehirnleistungen ermöglicht. Viele Buddhisten träumen vielleicht davon, in dem wunderbaren Zustand der Erleuchtung durch ein plötzliches Erlebnis anzukommen, und hoffen, dass dann alle Probleme schlagartig gelöst und ein völlig neuer und radikal besserer Zustand da ist. Ein solches unverbundenes Ankommen gibt es nicht. Große Zen- Meister betonen, dass man sich vorher diesen erleuchteten Zustand des Erwachens gar nicht realitätsnah vorstellen kann, sodass auch das „Ankommen“ in diesem Zustand nur real erfahren und nicht gedacht werden kann. Aber wie Dogen betont, geht dann das eigentliche Leben in „besserer Qualität“ weiter.

Nicht-Fortgehen:
Was für das Ankommen gilt, ist in ähnlicher Weise für das Fortgehen richtig. Unveränderliche absolute Entitäten sind schon immer in der Welt und enden und vergehen nicht. Sie können daher nicht fortgehen.

Im Buddhismus wird der Weg als Metapher für die menschliche Weiterentwicklung gewählt, zum Beispiel der Achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens und der Weg zum Erwachen. Unser bisheriges Leben wird bei einer solchen Entwicklung nicht total abgeschnitten, wir gehen nicht total verändert aus einem alten Zustand fort, verlassen ihn nicht zu 100 % und gehen zu einer völlig neuen Existenz. Der Weg ist auch nicht materiell und physisch zu verstehen. Es gibt bei jeder Veränderung eine Verbindung und gewisse Kontinuität zum Bisherigen, gerade wenn sich dabei neue Freiheiten und kreative Möglichkeiten eröffnen. Die vereinfachten Modellvorstellungen von Weggehen und Ankommen bedürfen also einer genaueren Untersuchung für unser wahres prozesshaftes Leben. Wir verändern uns laufend und sind weder genau die selben noch total andere..

In der heutigen Zeit ist es durchaus üblich geworden, Partnerschaften und Ehen „einfach“ zu verlassen und zu beenden. Häufig besteht dann allerdings die Illusion, dass man aus bisherigen Problemen einfach fortgehen kann und in einer neuen wunderbaren Partnerschaft ankommt. Wenn jedoch keine menschlichen Entwicklungsprozesse, Selbsterkenntnisse und die Überwindung bisheriger Hemmnisse stattgefunden haben, ist dies in Wirklichkeit gerade kein psychisch geistiges Fortgehen und kein Ankommen bei etwas fundamental Neuem möglich. Der Kreislaufprozess von Illusionen, Ernüchterung, Frustration und Psycho-Kampf wiederholt sich einfach mit neuen „Objekten“.

Weitere Perspektiven der acht Negationen
Es gibt meines Erachtens eine weitere wichtige Perspektive der obigen genannten Negationen der acht zentralen Begriffe und der Bereiche des Buddhismus: Durch die Negation werden naive oder erstarrte Vorstellungen, Meinungen und Doktrinen dieser Begriffe im Grundsatz erschüttert und aufgebrochen, sodass ein lebendiger Reflexions-Prozess in Gang kommen kann. Wichtig ist auch die innere Dialektik unserer Begriffe: es bestehen semantische Verbindungen der positiven Bedeutung und deren Negation. Beides zusammen ergibt eine undogmatische umfassendere Semantik, die sicher von Nagarjuna angestrebt wird.

Dadurch werden neue Sichtweisen und ein neues umfassenderes eigenes Verständnis der buddhistischen Lehre und Praxis durch eigenes Erleben und Erfahren ermöglicht. Es handelt sich um einen dialektischen Prozess, der über These und Antithese in Gang kommt und sich dann als geistiger lebender Prozess fortsetzt. Vielleicht werden dabei Extreme gestreift, aber durch die jeweilige Antithese sind sie nicht festgeschrieben und fixiert sondern nur aufgehoben. Eine solche Fixierung wäre genau das Falsche beim Mittleren Weg, der von Nâgârjuna im MMK und bei Dogen gründlich untersucht wird. Es liegt nahe an die dialektische Philosophie Hegels anzuknüpfen, der einen solchen fortlaufenden Dreierschritt entwickelt hat, wie sich aus der These und Antithese die Synthese entwickelt, die wiederum Ausgangspunkt als neue These für den weiteren Vorgang ist.

Dabei wird die vorlaufende These nicht ausgelöscht sondern „aufgehoben“, steht als in gewandelter Form weiterhin für den Klärungsprozess zur Verfügung. Im Einklang mit Bertram[10] ist das letzte Kapitel von Hegels „Philosophie des Geistes“ „das absolute Wissen“ die Beschreibung des fortlaufenden Wissensprozesses, der kein Ende hat und keine endgültigen Ergebnisse liefert. Damit wären durch diesen Prozess ideologische Verhärtungen oder dogmatische Verengungen des Geistes und Wissens überwunden. Das Wissen ist also nicht ein ewiges unveränderliches Ergebnis-Wissen oder starres Resultat, sondern eine Methode und ein Prozess, wie man Wissen fortlaufend weiterentwickelt. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Nâgârjuna ähnliche methodische Überlegungen an den Anfang seiner Untersuchungen des Mittleren Weges stellt.

Durch die Negationen werden verengte Dogmen der Begriffe aufgebrochen, sodass sich eine neue Beweglichkeit entwickeln kann, die wiederum dem ursprünglichen lebendigen Weg des Gautama Buddha das Tor öffnen. Wie der bekannte Interpret des MMK, Kalupahana betont, hatten sich verschiedene wirklichkeitsfremde Lehrmeinungen entwickelt, die zum einen Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit postulierten (Sarvastivadins) und zum andern den abrupten Wechsel von Ereignissen von Nichts und Realität (Sautrantikas) behaupteten, ohne selbstähnliche Veränderungen und prozesshafte Interaktionen sinnvoll erklären zu können. Beide extremen Lehrmeinungen können einer solchen dialektischen Negation nicht standhalten: Die Dauerhaftigkeit hat keine Fortentwicklung und Erweiterung des Körpers und Geistes und der abrupte Wechsel kennt keine Verbindung von der These über die Antithese zur Synthese usw..

Zweiter Teil der Präambel
Nâgârjuna umreißt im zweiten Teil der Präambel durch die Formulierung pratitya samutpada, wechsel-wirkendes gemeinsames Entstehen, seinen zentralen Ansatz für das MMK und beruft sich dabei u. a. auf das authentische im frühen Buddhismus wiedergegebene sutta.
Ich halte Nâgârjunas Ansatz, die authentischen Lehren Buddhas durch Antithesen und Negationen in Verbindung mit Fehlentwicklungen bestimmter Lehrmeinungen und Sekten für fruchtbar, wenn auch nicht immer leicht zu verstehen. Dies gilt nicht nur philosophisch sondern auch ganz praktisch für unser Leben. Mein Lehrer Nishijima Roshi hat die maßgeblichen Aussagen des Zen – Buddhismus von Meister Dôgen mit Nâgârjunas Versen verbunden und damit als erster einen großen Schritt zur Integration dieser beider Bereiche getan. Ich folge diesem Ansatz und habe mich entschlossen, ausgewählte Themen der Texte Dôgens an die entsprechenden Kapitel Nâgârjunas anzufügen.

Ich hoffe, dass damit buddhistische Kernaussagen eine spannende Erweiterung und neue Perspektiven erhalten. Teilweise geht es dabei um relativ klar abgegrenzte Themen, wie zum Beispiel beim Kapitel der Zeit bei Nâgârjuna und die Sein – Zeit bei Dôgen. Es ist aus meiner Sicht spannend und weiterführend, dass etwa eine Zeitspanne von tausend Jahren zwischen den Arbeiten Nâgârjunas und Dôgens liegt und zwei große menschliche Kulturen den Buddhismus prägten. Da ich außerdem einen direkten Bezug zu den authentischen suttas Buddhas gesucht habe, wird damit eine Entwicklungszeit von circa 2.500 Jahren Buddhismus direkt in unseren Blick gerückt. Nagarjuna und Dogen markieren zweifellos Höhepunkte der buddhistischen Weisheit und Praxis!

Damit gewinnen die acht obigen Kernpunkte der Fehlentwicklungen Nâgârjunas nicht nur ein scharfes Profil innerhalb der Präambel mit der Verbindung des wechsel-wirkenden gemeinsamen Entstehens, sondern auch zu Dôgens kaum zu überschätzende Texte aus der Blütezeit des chinesischen Chan- und japanischen Zen – Buddhismus.

Zur Ruhe Kommen der wegführenden Fehlentwicklungen
Aber wie können wir nun die obigen Fehlentwicklungen beenden, wie kommen sie zur Ruhe und wo finden wir den Mittleren Weg, der zerstörerische Extreme vermeidet und unsere Weiter- und Fortentwicklung fördert? Wie können wir Gier, Hass und die Verblendung falscher Sichtweisen überwinden? Wie erlangen wir Freiheit, Emanzipation und Erleuchtung? Dazu brauchen wir zweifellos Klarheit im Körper und Geist und geübte Kräfte zum rechten Handeln.

Der grundsätzlich richtige Weg wird im zweiten fulminanten Teil der Präambel vorgestellt und später im MMK genauer interpretiert. Nagarjuna sagt völlig klar und eindeutig, dass er Gautama Buddha als den "besten der Sprechenden" und Lehrenden schätzt und hoch verehrt, und unterstreicht damit sein Vertrauen in die authentische Lehre.

Es ist richtig, dass wir für die nicht leicht zu verstehenden Verse Nagarjunas selbst Achtsamkeit, Konzentration und wachsende Klarheit benötigen. Aber wenn "wir dran bleiben", wird der alte Text ganz neu zu uns sprechen, ja der Text wird in einen lebendigen Dialog mit uns eintreten. Was dabei herauskommt, können und sollten wir vorher gar nicht unbedingt genau festlegen.

Von besonder Bedeutung ist zweifellos die Klarheit darüber, was Nagarjuna mit wechsel-wirkendem „gemeinsamen Entstehen“, pratitya samutpāda, sagen will und wie er es von dem obigen falsifizierten , nicht gemeinsamen Entstehen, anutpāda, abgrenzt.

Nagarjuna gilt als Hauptvertreter der damals weitgehend neuen Richtung der Leerheit des Mittleren Wege des Madhyamaka und Mahayana. Im MMK können wir daher die genaueste Analyse des oft mystifizierten oder missverstandenen Begriffs der Leerheit finden. Oder anders gesagt: Wer die Leerheit nicht aus dem MMK sondern aus anderen nicht zuverlässigen Texten ableitet, wird kaum Klarheit zur Bedeutung der Leerheit gewinnen können. Wesentlich ist der Zusammenhang von wechsel-wirkendem gemeinsamen Entstehen und dem Begriff der Leerheit.

Und weiter: Was versteht Nagarjuna unter „wegführenden Fehlentwicklungen“, die die wahre Lehre verlassen, in die Irre gehen und den Befreiungsweg verstellen. Dies meint, dass wir uns in einem Gestrüpp unklarer Begriffe, erstarrter Vorstellungen und falscher Handlungen verlieren!

Nagarjuna geht es m. E. um das klare Verständnis von Dingen, der Materie und anderen Phänomenen der belebten Welt und Natur: Was ist die Wahrheit und was ist ein gutes Leben in unserer Welt? Die Festkörper-Physik lehrt uns bereits heute die Wechselwirkung der Materie. Sie ist in der Tat ein universelles Prinzip, sei es in lebenden oder nicht lebenden Systemen.

Gibt es nun unabhängige, absolute Wahrheiten und entsprechende verborgene Substanzen und Entitäten, die uns Sicherheit und Halt in unserem Leben geben können, nach denen sich so viele Menschen sehnen? Populistische, dogmatische oder gar extremistische Antworten würden uns dabei noch tiefer in Unsicherheiten und wegführenden Fehlentwicklungen stürzen; es ist also Vorsicht geboten.

Ohne in eine zu komplexe Diskussion einzusteigen, soll nun kurz eine erste Deutung gegeben werde, die sich auch auf den großen Buddhologen Kalupahana[11] stützt.
Die wichtigen Themen des MMK werden der Präambel, wie in einer Ouvertüre, kurz vorgestellt, um später vertieft und umfangreich ausgeführt zu werden. Wir dürfen dabei nicht vergessen: MMK ist ein Lehr-Gedicht, oder wie Nishijima Roshi sagte, ein Gesang.

Ergebnis
Im ersten Teil werden acht Negationen von zentralen buddhistischen Begriffen aufgeführt. M. E. ist es sinnvoll sie semantisch auch auf ihre jeweiligen positiven Begriffe zu beziehen, um den vollen Umfang der Bedeutungen zu erkennen. Es handelt sich nicht um absolute unabhängige Negationen, sondern um ihren erweiterten Bedeutungsumfang, der philosophisch durch die Verbindung von positiver und negativer Formulierung erreicht wird. Die Unterscheidung und Negation ist nicht jeweils isoliert und absolut zu verstehen, sondern maßgeblich ist gerade ihre Verbindung.

Das kann philosophisch als „Ganzheit der Differenz“ verstanden werden. Dabei ist die Differenz gerade nicht absolut, sondern als relative Unterscheidung bei gleichzeitiger Verbindung zu verstehen. Der positive und negative Begriff haben eine inhärente Differenz, dabei eine inhärente Beziehung zueinander (vgl. „Arbeit des Negativen“ bei Hegel) [12]Dieses Verständnis hat große Bedeutung für den späteren Buddhismus des Madyamika und Mahayana, wie z. B. für das Herz-Sutra. Falsch verstandene Deutungen haben sicher dazu beigetragen, dass Nagarjuna immer wieder als Nihilist missverstanden wurde.

Nach meinem Verständnis gibt es in der Präambel zwei Schlüsselbegriffe, die fundamentale Bedeutung haben und auch in das große Werk des MMK einführen:
Wechsel-wirkendes gemeinsames Entstehen“ als konstruktive positive Aussage der buddhistischen Befreiung und des Neuanfanges.

Nicht-Entstehen“ als Verharren und Festhalten an alten, verhärtenden und prägenden Leid-bringenden Mustern und Verhalten, sodass weder Befreiung noch Neuanfang zur Erleuchtung gelingen können. Das „Nicht-Entstehen“ sollte m. E. begrifflich inhärent dialektisch verstanden werden.[13] Es ist ohne Beziehung zum positiven„Verstehen“ in der Wechselwirkung unbrauchbar.

Was soll damit gesagt werden? Beide Male verwendet Nâgârjuna den Sanskrit-Begriff utpada, der Entstehen bedeutet, und einmal positiv in der Verbindung mit „sam“, das zusammen, gemeinsam und kombiniert bedeutet, also gemeinsames Entstehen, und einmal in der Form der Negation, gewissermaßen die fehlende Entwicklung, das Nicht-Entstehen. Nâgârjuna verneint eine verengt dinghafte und erstarrte Vorstellung und Ideologie des isolierten Nicht-Entstehens von Phänomenen ohne wirkliche Veränderungen und Prozess-Charakter.

Lebendiges Entstehen gelingt in Wechselwirkung und nicht isoliert allein aus sich selbst. Er setzt dem das richtige prozesshafte gemeinsame Entstehen in Wechsel-Wirkung entgegen. Die Wechsel-Wirkung kann nur in zeitlichen, vernetzten Prozessen ablaufen und verstanden werden. Dies ist ein unverzichtbares Verständnis der dynamischen Wirklichkeit in der Welt, ganz gleich wie genau man sie im Detail oder als Ganzes analysieren und verstehen kann.

Denn die Wirklichkeit von vernetzen Systemen, z. B. der Ökologie und des neuronalen Netzes unseres Gehirns, kann nach heutiger gesicherter Kenntnis nur sinnvoll durch rückgekoppelte Prozesse in Verbindung mit entsprechenden Strukturen beschrieben werden. Wechselwirkung ist daher für alles Lebendige der Welt typisch und charakteristisch; eine Beschreibung durch eindimensionales unidirektionales „abhängiges Entstehen“, wie bisher meist im Buddhismus üblich, ist verengt und reicht nicht aus, vielleicht hat ein solches Verständnis manche Irrtümer zur Folge gehabt. M. E. wird mit diesem Paradigmenwechsel die Verständlichkeit, Klarheit und Wirkkraft des MMK nachhaltig verbessert.

Nagarjuna wählt dabei exemplarisch markante Begriffspaare in der Präambel, die sicher in seiner Zeit im Buddhismus häufig verwendet, aber wohl auch sektiererisch falsch verstanden wurden. Für das unzureichende Verständnis verwendet er die Formen der Negation und Destruktion und kennzeichnet damit die Sichtweise ohne Veränderungen, Entwicklungen und Emanzipation. Wir sollten ein isoliertes und erstarrtes Verständnis heute im Westen besonders gründlich analysieren, wo der Individualismus aus den Fugen geraten ist und wo Fakenews, ein hohler Materialismus und übersteigerter Egoismus um sich greifen. Das kann helfen, dass kein falsches Verständnis des Buddhismus aufkommt.

Ein ähnliches Begriffspaar verwendet Nâgârjuna für „nicht zur Ruhe kommen“ und „angenehmes Aufhören der wegführender Fehlentwicklung. Denn unser Gleichgewicht zu finden, zur Ruhe zu kommen und den Mittleren Weg zu gehen sind zweifellos zentrale Eckpunkte des Buddhismus. Sie können aber nur verstanden werden, wenn prozesshafte Wechsel-Wirkung, Werden und Emanzipation einbezogen werden. Das heißt, dass wir in unserem Leben nicht zur Ruhe kommen, wenn wir von isolierten, dinghaften Phänomenen und ewigen unsichtbaren Substanzen ausgehen, die sogar durch Magie beeinflusst werden können. Durch falsche Sicherheiten und substanzhafte Weltanschauungen entstehen gerade Unruhe und Hektik. Dann würden wir die erkennbaren wechsel-wirkenden Veränderungs-Prozesse vernachlässigen oder verdrängen. Dies ist aber ein typisches Merkmal statischer und erstarrter Doktrinen, Weltanschauungen und Ideologien.







[1] Vgl. Kant zur Definition von Vernunft und Verstand. Ähnlich bei Georg W. Bertram Hegels „Phänomenologie des Geistes“, S. 322 f.
[2] Hegel in Georg W. Bertram Bertram
[3] Kalupahana, Casuality
[4] Peter Gäng, Achtsamkeit
[5] Kalupahana, MMK
[6] Manfred Spitzer
[7] Peter Gäng, Achtsamkeit
[8] Manfed Spitzer
[9] Joana Macy
[10]  Hegel zitiert in Georg W. Bertram
[11] Kalupahana, MMK
[12] Hegel Phänomenologie des Geistes, „Arbeit des Negativen“, zitiert in Georg W. Bertram, S. 316 f.
[13] Hegel, zitiert in Georg W. Bertram