Die Präambel: Eine
Ouvertüre
(Yudo J. Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner)
((Aus meinem neuen Buch "Sternstunden des Buddhismus", bitte Urheberrecht beachten)
Wir möchten Ihnen unsere neue Interpretation des
berühmten Mittleren Weges (im Folgenden MMK) vorstellen. Es handelt sich um
einen der wichtigsten Basis-Texte des
Buddhismus, der allerdings nicht einfach zu verstehen ist und seit vielen
Jahrhunderten immer wieder zu Missverständnissen geführt hat. Er ist u. a. der zentrale
Grundlagentext für den Begriff und die Bedeutung der Leerheit (Kapitel 24 des
MMK, hier nicht behandelt).
Wir sind davon überzeugt, dass diese neuen
Erkenntnisse einer wortgetreuen Erst-Übersetzung und der modernen Systemforschung
z. B. der Ökologie und Gehirnforschung ein nachhaltig
besseres Verständnis als bisher ermöglichen. Etwas zugespitzt kann man
sagen, dass Buddha und Nagarjuna ein tiefes intuitives Verständnis derartiger
lebender System-Vernetzungen und deren Veränderungen hatten, das bisher zu
wenig beachtet wurde. Aber der Buddhismus geht selbstverständlich über eine
rein wissenschaftlich Sichtweise hinaus.
In einem folgenden Post werde ich einen wichtige Basis-Text des Zen-Meisters Dôgen aus seinem großen Werk Shobogenzo vorlegen, der einen erstaunlichen Bezug zur Präambel des Mittleren Weges hat.
In einem folgenden Post werde ich einen wichtige Basis-Text des Zen-Meisters Dôgen aus seinem großen Werk Shobogenzo vorlegen, der einen erstaunlichen Bezug zur Präambel des Mittleren Weges hat.
Hinführung
Die Präambel des MMK lenkt unseren Geist und unser
Leben auf das große Anliegen Buddhas und Nagarjunas, uns von bisherigen
Begrenzungen und Hemmnissen des Leidens zu befreien und uns auf ein erfülltes
und kaum erhofftes Neuland des Lebens zu leiten. Ihr Anliegen ist in hohem Maße
emanzipatorisch, therapeutisch und kreativ. Dann können wir bisheriges Leiden
überwinden und ein neues Leben mit Freude, innerer Ruhe und Gleichgewicht
führen. Das bezeichnet Buddha als Erwachen und wir sagen heute meist
Erleuchtung.
Als zentrale Verursachung für ein ungutes Leben ist
die Fixierung auf erstarrte Ideologien und die Abhängigkeit von Gier, Hass und
Unwissenheit zu sehen. Der Kausal-Zusammenhang des Leidens und auch der Freude
ist nach seiner Lehre und Erfahrung weitgehend und zunehmend durch unsere eigene Vernunft zu erkennen und durch
neue von uns selbst gesteuerte weiterführende Impulse zu verändern. Ein
begrenzter Verstand reicht im
Gegensatz zur Vernunft nicht aus.[1]
Die Klarheit unseres eigenen Geistes in dem wechsel-wirkenden
Zusammenhang kann uns dabei den rechten Weg weisen. Das ist ein kraftvoller Weg
der Mitte, der ideologische und dogmatische Extreme vermeidet. Dabei müssen die
wichtigen Begriffe des Buddhismus einer laufenden durchaus kritischen Analyse
unterzogen werden, indem sie auch in
Beziehung zu ihrer eigenen Negation gesetzt werden, z. B. Entstehen und
Nicht-Entstehen. Mich überzeugt diese Praxis und Philosophie Buddhas und
Nagarjunas in besonderem Maße.
Welches ist nun der Weg, den wir zu diesem neuen
Leben einschlagen sollten und mit zunehmender Ruhe und mit wachsendem Selbstvertrauen
gehen? Nagarjuna will m. E. für den
authentischen Buddhismus eine neue belastbare
Grundlage und Klarheit zurück gewinnen und gleichzeitig die seit Buddha
entstandene positive Entwicklung in Indien integrieren und vital weiterführen.
Aber er will auch und gerade die eingetretenen Fehl-Entwicklungen und
philosophischen Verwirrungen dingfest machen, einkreisen und einer wirklich
radikalen kritischen Analyse unterziehen. Und wir sollten heutiges Wissen der
Moderne von Wissenschaft und Philosophie einbringen. Damit gewinnt der
Buddhismus neue Klarheit und Dynamik, und das gilt auch und gerade für unsere
Gegenwart.
Das gelingt ihm ohne Zweifel dank seines
brillianten, geschulten und messerscharfen Verstandes ausgezeichnet wie kaum
ein anderer Denker vor und nach ihm. Aber seine Texte sind nicht einfach zu
verstehen, sie waren und sind vielfältigen Missverständnissen ausgesetzt. Mit
dem MMK wird m. E. das Tor für die große Verbreitung der authentischen
buddhistischen Lehre und Praxis über den chinesischen Chan, japanischen Zen und
den tibetischen Buddhismus bis hin zur Moderne im Westen geöffnet. Für mich
sind die Arbeiten von Nagarjuna nach intensivem Studium von über 17 Jahren des
Mittleren Wegs (Madhyamika) und Mahahayana und 47 Jahren des Zen von zentraler
Bedeutung. Dieser Weg wäre ohne meinen Lehrer Nishijima Roshi nicht möglich
gewesen. Was sind nun die Kern-Aussagen der Präambel, die in den später folgenden
Kapiteln des MMK im Einzelnen ausgearbeitet werden?
Im ersten Teil werden acht wichtige buddhistische
Begriffe negiert, z. B. „nicht Entstehen“
und „nicht zur Ruhe kommen“. Damit fordert der Autor uns auf, die erstarrten
aber eventuell nur oberflächlich oder sogar falsch verstandenen Begriffe radikal
in Frage zu stellen, sie waren nicht selten dogmatisch verhärtet und zu
Worthülsen oder sogar zum Gegenteil degeneriert. Aber wir sollten uns auch vor
der dogmatischen Verhärtung der Negation hüten, sie darf nicht absolut und
isoliert verstanden werden. Durch den dialektischen
Zusammenhang des positiven und negativen
Begriffes wird methodisch jede extreme Einseitigkeit der Bedeutung
überwunden und eine inhärente Dynamik des
Begriffes selbst in Gang gesetzt.[2]
Leider waren nach Buddha sektiererische Gruppen
entstanden, die den authentischen Buddhismus entstellten und sogar vor-buddhistische,
magische, dogmatische und absolute Ideologien wieder belebten: Vor allem soll
dabei die indische spirituelle Sehnsucht
und Philosophie nach Ewigkeit, Einheit, Unvergänglichkeit und Auflösung des Selbst im Einheits-Ozean des Nirvana
genannt werden. Das ist recht genau die Religion der Veden mit brahman als das
umfassende moralische Ur-Eine und âtman als der daraus entstandene und zugehörige
individuelle unveränderliche Wesenskern.
Aber genau diese Philosophie führt nach Buddha zu
Missbrauch und Leiden, nicht zuletzt durch die „göttliche“ unauflösbare
Koppelung an das unethische indische Kastensystem. Diese ewige Koppelung hatte
Buddha ohne Zögern für ungültig und ethisch unvertretbar erklärt und konsequent
ausgeschlossen. Der Buddhismus wird von Nagarjuna von solchen Doktrinen entschlackt und zu neuer Kraft und zu neuem Leben erweckt werden. Es geht ihm
keineswegs um die totale Ablehnung aller Ansichten, Lehren und Konzepte oder
der Wirklichkeit selbst, wie nihilistische Interpreten behauptet haben. Die
genannten vor-buddhistischen Lehren
werden jedoch klar bezeichnet, die von Buddha als falsch, unzureichend oder
sogar gefährlich markiert wurden[3].
Wie lautet die zentrale positive Botschaft des MMK?
Die Wirklichkeit der Welt und des Lebens kann durch das „wechsel-wirkende
gemeinsame Entstehen, pratitya samutpada“
treffend verstanden und bezeichnet werden. Dabei ist für mich klar, dass die
Wirklichkeit niemals wegen ihrer unendlichen Komplexität total verstanden
werden kann und es geht darum, sie so gut wie möglich zu verstehen und in die
eigene Selbst-Steuerung zu integrieren. Ich halte das Ziel des absoluten Allwissens
im Buddhismus für illusorisch und romantisch überzogen. Es ist typisch für die vor-buddhistische Religion. Damit sind die
wirklich belastbaren Grundlagen für unseren eigenen Weg der Befreiung,
Emanzipation, Weiter-Entwicklung und des Erwachens umrissen.
Dieses Verständnis der Wirklichkeit als gemeinsames
Entstehen in Wechsel-Wirkung hat eine erstaunlich große Übereinstimmung mit den
Ergebnissen der neuesten Gehirnforschung und Öko-Systemforschung. Bisher wurde
als Übersetzung überwiegend der verkürzte Begriff „abhängiges Entstehen“
verwendet, den ich jedoch nicht wirklich überzeugend finde. Darauf werde ich
noch zurückkommen.
Und weiter: Durch unsere eigene Einwirkung („Wirk-Kraft“) im Geist und im Handeln also durch
gewollte und bewusste Veränderungen erreichen wir das „gemeinsame Gelingen in Wechsel-Wirkung“. Das ist ohne Zweifel ein
zentraler Schlüssel des Buddhismus, denn damit gelingt ein gutes Leben.
In unserem Leben entstehen vielfache wegführende Fehlentwicklungen, die nach Buddha und Nagarjuna durch die buddhistische
Lehre und Praxis zur Ruhe kommen. Sie
hemmen und verwirren uns dann auf dem Mittleren Weg nicht mehr, sodass sich unser
fast unbegrenztes menschliches Potential
entwickelt und genutzt werden kann, ein Potential, das sonst wohl vergeudet
würde.
Im Laufe der Argumentation des MMK wird der Begriff
der Leerheit als Bezeichnung für die gemeinsame Wechsel-Wirkung in der Realität
ohne schädliche Doktrinen eingeführt. Aber auch der Begriff der Leerheit stiftet oft tiefgreifende Verwirrungen.
Die Leerheit hat etwa folgende Bedeutung: Bezeichnung der Wirklichkeit ohne Mystifizierungen,
doktrinäre Verzerrungen, ohne leidenschaftliche Abhängigkeiten und mit unserer eigenen
Selbst-Steuerung. Das ist die dynamische „Wirklichkeit
wie sie wirklich ist und sich fortlaufend verändert“. Philosophisch gilt: Die Wirklichkeit ohne die Doktrin einer innewohnenden,
unsichtbaren und unveränderlichen
Substanz (âtman, svabhâva). Die Wirklichkeit ist also leer von einer solchen unsichtbaren ewigen und absoluten Substanz des Selbst.
Die Dynamik der Wirklichkeit ist durch
Entstehen, Vergehen, Veränderungen usw. gekennzeichnet. Diese Veränderungen
sind Voraussetzungen sowohl für die Überwindung des Leidens als auch die
Befreiung, Weiterentwicklung, Emanzipation und Erleuchtung des Menschen. Die Vernetzung
und Wechselwirkung der Prozesse und
Strukturen der Wirklichkeit sind dabei wichtig. In der Wirklichkeit können wir überhaupt
keine Isolation, keine totale Unabhängigkeit und kein Entstehen ohne
Wechselwirkung und kein Entstehen nur aus sich selbst heraus erkennen. Dabei
ist die Interaktion in der Vernetzung des Ganzen von zentraler Bedeutung.
Bedeutsam ist die
konsequente Vermeidung von gedachten oder geglaubten Extremen, das ist der Mittlere
Weg. Wir brauchen zudem Klarheit über die Möglichkeiten und Grenzen von Verzerrungen der Sprache und
der Vernunft: „Weisheit jenseits der Weisheit“. Dazu gehört auch die Überwindung reiner „gelehrter“ Scholastik
und der mathematischen Logik, also des ausschließenden „Entweder-Oder und der totalen
Identität“ (wie etwa Aristoteles).
Schließlich
ist es ohne die wirkliche Bedeutung der Leerheit
nach Nagarjuna m. E. sehr schwer, das MMK und die weitere Entwicklung des
Buddhismus zu verstehen.
Übersetzung:
Nicht-zur-Ruhe-Kommen,
Nicht-Entstehen.
Nicht-Abschneiden,
Nicht-Dauerhaftigkeit.
nicht
einen Zweck habend, nicht viele verschiedene Zwecke habend.
Nicht-Ankunft,
Nicht-Fortgehen.
Buddha, der vollkommen Erwachte, zeigte das
wechsel-wirkende gemeinsame Entstehen in der Welt und den Mittleren Weg zu
einem befreiten Leben. Er zeigte das beglückende Aufhören der wegführenden
Fehlentwicklungen und Verwirrungen.
Ihn,
den besten der Sprechenden und Lehrenden, verehre ich
Erster
Teil der Präambel
Nicht-zur-Ruhe-Kommen
Wie
zum frühen Buddhismus beschrieben, ist der Kern Buddhas Lehre die Veränderung,
Weiterentwicklung, Befreiung des Menschen und vor allem die Überwindung des
Leidens. So kommt das Leiden zur Ruhe. Wenn zum Beispiel das auf „Sinnlichkeit
gerichtete Wollen“ oder die „Aufgeregtheit und Unruhe“ als Hemmnisse nicht zur Ruhe kommen, kann es den Befreiungsweg des Erwachens für uns
nicht geben. Wer nicht darauf vertraut, dass sich diese Hemmnisse kontrollieren und überwinden lassen, sondern daran
glaubt, dass sie unveränderliche
Phänomene und substanzhafte Entitäten des Menschen sind, dem fehlt der Mut
und die Kraft zur eigenen Entwicklung.
Solche
Hemmnisse sind vielleicht irgendwann einmal in der frühen Jugend entstanden
oder auf äußere Einflüsse zurückzuführen, aber sie sind keine unveränderlichen Merkmale eines
angeblich unveränderlichen Kerns der Persönlichkeit. Es ist sicher kein
Geheimnis, dass heute viele Menschen resignierend nicht daran glauben, dass es
solche Veränderungen zum Positiven geben kann, sodass man zur Ruhe kommen und Gelassenheit in seiner Mitte finden kann. Das eigene Handlungs- und
Entwicklungs-Potential bliebe dann ungenutzt und kann sich nicht entwickeln.
Besonders fatal ist es, wenn erstarrte konventionelle Weltanschauungen und
Doktrinen von den Menschen Besitz ergreifen und sie meinen, dass das Leiden wie
Kummer, Jammer, Schmerz, Gram, Verzweiflung usw. grundsätzlich nicht überwunden werden können.
Buddhas
Lehre sagt das Gegenteil und nennt Neid, Gier, Hass und Verblendung als
Verursachung für einen solchen falschen Glauben der Erstarrung und
Dauerhaftigkeit des Leidens. Wenn wir von diesen „Giften“ beherrscht werden,
können wir nicht mehr klar denken, sehen, hören, fühlen usw., sodass sogar die
sinnliche Wahrnehmung unklar, verzerrt und ideologisch gefesselt ist. Das gilt
in noch stärkerem Maße für geistige und psychische Bereiche des Menschen. Buddha
sagt in den Vier Edlen Wahrheiten, wie wir uns befeien, zur Ruhe kommen und das
Leiden aufheben:
„Eben jenes Durstes restlose von Gier
freie Aufhebung, sein Aufgeben, seine Entäußerung, die Befreiung davon, das
ohne Grundlage ist.“[4] Der Achtfache Weg wird als praktischer Weg der
Befreiung genannt, zum Beispiel rechte
Sichtweise, rechter Entschluss
usw.
Die
Aussage „Nicht zur Ruhe kommen“ scheint gegen den authentischen Buddhismus
gerichtet zu sein und im Widerspruch mit ihm zu stehen. Was will Nagarjuna
damit ausdrücken? Ich folge dabei Kalupahana[5],
der die sektiererische Doktrin einer unsichtbaren, unveränderlichen Substanz in den Phänomenen der Welt benennt, die
gerade nicht zur Ruhe kommen kann (Sarvastivadins). Das gilt für etwas, das
sich nicht dynamisch verändert.
Nicht-Entstehen:
Wenn
man von unveränderlichen Dingen und
Phänomenen, dem angeblich ewigen Seienden einer unsichtbaren und inhärenten
Substanz in der Welt ausgeht, kann es keine Veränderungen und Bewegungen in
unserem Leben geben. Dann kann nichts
entstehen und es gibt keinen Entwicklungs-Weg aus dem Leiden der Welt. Bei
einer solchen Philosophie und Weltanschauung kann die buddhistische
Befreiungslehre gar nicht in der Praxis in Gang kommen, sie bleibt im philosophisch
Unverbindlichen und hat keine Wirkung für den Menschen. Bei einer allgemeinen
Ideologie des „Nicht-Entstehens“ müssen wir von totaler Isolation des Menschen
ausgehen, es gibt dann keine Einwirkung von anderen Menschen, der Umgebung und
keine Wechsel-Wirkung.
Aber
die buddhistische Lehre kennt auch Lebens-Situationen, in denen bestimmte
negative Phänomene gerade nicht entstehen
sollen. Zum Beispiel heißt es bei den fünf Hemmnissen zum Übelwollen: Der Mönch
erkennt „wie vergangenes Übelwollen
künftig nicht mehr entsteht“. Ähnliches gilt für die anderen vier Hemmnisse
Aufgeregtheit, Unruhe oder Zweifelsucht. Buddha sagt auch: Wenn Neid, Gier Hass
usw. nicht entstehen, so gibt es kein
Leiden. Jeder menschliche Entwicklungs-Prozess lässt dagegen neue Kräfte,
Freiheiten und kreative Alternativen entstehen. Wer nicht darauf vertraut, kann
sich nicht entwickeln und ist eigentlich geistig und psychisch schon halb
gestorben.
Gerade
die positive Veränderlichkeit ist ein zentrales Merkmal des Menschen, weil er
immer etwas Neues verwirklichen kann und sich dadurch Freiräume und
Unabhängigkeiten erarbeitet, die anderen Lebewesen, z. B. den Tieren, nur in
geringem Umfang oder überhaupt nicht möglich sind. Lernprozesse sind wesentlich
Entstehungs- und Erweiterungs-Prozesse und laufen am besten natürlich und mit Freude ab, das wissen wir aus der
Gehirnforschung.[6] Es gilt insbesondere für die sieben Glieder des Erwachens:
Achtsamkeit, Unterscheidungsvermögen, Energie, Freude, Gestilltheit, Sammlung
und Gleichmut. So heißt es bei Buddha von einem solchen Menschen, der diese
Glieder des Erwachens entstehen lässt: „Unabhängig
lebt er und er haftet an nichts in der Welt“[7].
Nicht-Abschneiden:
Alle
lebenden Prozesse dieser wirklichen Welt entwickeln sich fort und hören nicht
plötzlich auf: Sie verschwinden nicht plötzlich im Nichts. Sie können also
zeitlich nicht abrupt beendet werden und es gibt daher kein zeitliches Abschneiden. Auch die in einigen
buddhistischen Gruppen gelehrte plötzliche Erleuchtung bedeutet nicht, dass
alles Vorherige abgeschnitten ist und etwas total Neues entsteht, sondern dass
es sich einerseits um eine kontinuierliche Entwicklung des Menschen handelt,
aber dass zusätzlich ein plötzlicher qualitativer Schub der Lebensqualität und
Klarheit für die weitere Entwicklung entsteht, der neue Dimensionen eröffnet.
Die
buddhistische Lehre des Handelns im
Augenblick und der vollen Klarheit der Achtsamkeit bedeutet ebenfalls, dass
das Bisherige nicht abrupt beendet ist, sondern dass es sich um Umwandlungen
und Transformationen handelt. Bei der Karma – Lehre ist es sicher unbestritten,
dass es kein radikales Abschneiden gibt. In bestimmten materialistischen Sekten
gab es zudem den Glauben an ein abruptes materielles Ende. Andere Linien
lehnten die moralische Verantwortung ihrer Taten ab, sodass nach dem Tun keine
Fortsetzung bestehen sollte.
Nicht-Dauerhaftigkeit:
Es
gab die Doktrin der unverbundenen
isolierten Ereignisse, die aus dem Nichts entstehen und sofort wieder
abrupt enden. Sie dauern überhaupt nicht an. Durch irgendeine metaphysische nicht
beobachtbare Verbindung sollte dabei die Verbindung zu einer Kette von Ereignissen
hergesellt werden (Doktrin der
Sautrantika). Nach Nagarjuna entspricht dies nicht der authentischen Lehre
und ich folge ihm dabei.
Die
bisherigen Ausführungen machen klar, dass es in unserem Leben und in der Welt
nichts Ewiges und Dauerhaftes gibt, das beobachtet werden kann. Ewiges
unterliegt der Fantasie, Spekulation und dem Glauben und ist oft eine „schöne“
Illusion der Menschen. Aber Prozesse haben auch ein Bestehen, das veränderlich
ist und zum Vergehen überleitet.
Nicht den einen Zweck haben und
Nicht-Einheit:
Mit
dieser Aussage wird m. E. das Extrem der totalen Identität oder des absoluten all-umfassenden
Einen angesprochen. In der vorbuddhistischen Zeit wurde dieses Eine mit
Brahman bezeichnet. Die Sehnsucht nach einem solchen Einen bestand aber auch im
Buddhismus immer weiter fort und äußert sich sogar in der heutigen volks-buddhistischen
Literatur. Es wird aber von Buddha als unrealistisches Extrem abgelehnt und bei
klarer Sicht kann es in der Welt nicht beobachtet werden.
Es
ist von zentraler Bedeutung für die Steuerung und Entwicklung in unserem Leben,
dass wir uns zwar ein erreichbares Ziel
setzen und einen übergeordneten sinnhaften Zweck verfolgen, zum Beispiel den
Willen zur Wahrheit entwickeln. Es macht Sinn, anderen Menschen durch
Bodhisattva – Handeln zu helfen, ohne unser eigenes egoistisches Ich aufzuwerten, also ohne eigene narzisstische Grandiosität zu handeln. Aber wer nur ein einziges
fixiertes Ziel verfolgt, neigt zum Extremismus und vernachlässigt die
Achtsamkeit des Handelns im Augenblick. Das lehrt auch die Geschichte der
meisten Religionen. Man darf sich nicht auf fernliegende ideologische Ziele
versteifen, sondern in voller Achtsamkeit im vielfältigen Hier und Jetzt
handeln.
Nicht verschiedene Zwecke haben:
Hier
wird das andere Extrem angesprochen, dass es totale Differenz und damit unverbundenes
Chaos gibt. Im MMK werden also sowohl die totale Identität als auch die totale
Differenz als Extreme abgelehnt. Die angesprochene Vielfalt wurde in den
entsprechenden Doktrinen so verstanden, dass die Phänomene isoliert und
voneinander unabhängig sind. Sie wurden als isolierte Entitäten verstanden, wie
etwa unabhängige Atome als Bausteine der Welt. Nagarjuna lehnt solche absolute
Differenz ab.
Auch
unsere Zwecke und Ziele sollten nicht unabhängig und voneinander isoliert sein,
es besteht dabei eine Wechselwirkung. Sie sollten eine gewisse Ordnung und
Kohärenz haben und sich nicht radikal widersprechen. Wer die Gewinne des
rücksichtslos materiellen Reichtums anhäufen will, kann schwerlich für andere Menschen
das Bodhisattva – Handeln verwirklichen und menschliche Offenheit für andere
entwickeln. Materieller Egoismus lässt sich mit Empathie für andere kaum
vereinbaren, solche Zwecke widersprechen sich, sie zeugen von innerer
Gespaltenheit und permanenten Verdrängungen. Und sie machen unglücklich. Es ist
ein Irrtum der alten Wirtschaftwissenschaften, dass der Mensch ein egoistischer
homo oeconomicos ist, wie die neue Gehirnforschung einwandfrei bewiesen hat.[8]
Der
Zen-Buddhismus Dogens legt ein besonderes Gewicht darauf, dass uns unrealistische,
unverbundene, absolute Ziele und Wünsche in gefährliche Illusions-Welten
führen, die wir als solche oft nicht erkennen
Nicht-Ankunft:
Wenn
wir absolute, ewige Substanzen für die Phänomene annehmen, sind diese schon
immer in der Welt vorhanden. Für sie gibt es kein Ankommen und kein Weggehen.
Das ist natürlich eine weltfremde Ideologie, denn wir können fortlaufende
Prozesse des Ankommens beobachten. Dass wir in unserem Leben irgendwo ankommen,
zum Beispiel in einer bestimmten Stadt, erscheint uns ganz selbstverständlich.
Noch dringlicher ist uns oft das Ankommen in einem geistigen, psychischen oder
spirituellen Zustand, wie etwa der Erleuchtung. Warum sollte es das nicht
geben, auch wenn immer wieder Illusionen im Spiel sind?
Wie
können wir diese Aussage außerdem verstehen? Vielleicht ist es auch eine
Verbindung zur Wechselwirkung und zum gemeinsamen Entstehen in der Präambel, pratitya samutpada, angesprochen. Die
Wechsel-Wirkung ist immer in zwei Richtungen wirksam und vernetzt, niemals nur
in einer Richtung ( nicht uni-direktional)[9].
Durch ein zu simples und vordergründiges Verstehen des Ankommens als Entität wäre
der Prozess nach dem Ankommen
beendet. Wenn wir in einer Stadt, in einer Gruppe oder sonst irgendwo ankommen,
bedeutet das, dass es dort weitergeht und dass das Ankommen nicht das totale
Ende der Bewegung und des Prozesses ist. Bei der Wechsel-Wirkung geht es darum,
dass eine Rückkopplung zustande kommt und erst dadurch überhaupt sinnvolle
Gesamt-Prozesse realisiert werden.
Typisches
Beispiel dafür ist unser eigenes Gehirn, das neuronale Netz, das in intensiver
Wechsel-Wirkung durch die Areale und Moduln miteinander verbunden ist und mit den
Input-Informationen von außen unsere bewussten und unbewussten Gehirnleistungen
ermöglicht. Viele Buddhisten träumen vielleicht davon, in dem wunderbaren
Zustand der Erleuchtung durch ein plötzliches Erlebnis anzukommen, und hoffen, dass dann alle Probleme schlagartig gelöst
und ein völlig neuer und radikal besserer Zustand da ist. Ein solches unverbundenes
Ankommen gibt es nicht. Große Zen- Meister betonen, dass man sich vorher diesen erleuchteten Zustand des
Erwachens gar nicht realitätsnah vorstellen kann, sodass auch das „Ankommen“ in
diesem Zustand nur real erfahren und nicht gedacht werden kann. Aber wie Dogen
betont, geht dann das eigentliche Leben in „besserer Qualität“ weiter.
Nicht-Fortgehen:
Was
für das Ankommen gilt, ist in ähnlicher Weise für das Fortgehen richtig.
Unveränderliche absolute Entitäten sind schon immer in der Welt und enden und
vergehen nicht. Sie können daher nicht fortgehen.
Im
Buddhismus wird der Weg als Metapher für die menschliche Weiterentwicklung gewählt, zum Beispiel der Achtfache
Pfad zur Überwindung des Leidens und der Weg zum Erwachen. Unser bisheriges
Leben wird bei einer solchen Entwicklung nicht total abgeschnitten, wir gehen
nicht total verändert aus einem alten Zustand fort, verlassen ihn nicht zu 100
% und gehen zu einer völlig neuen Existenz. Der Weg ist auch nicht materiell
und physisch zu verstehen. Es gibt bei jeder Veränderung eine Verbindung und
gewisse Kontinuität zum Bisherigen, gerade wenn sich dabei neue Freiheiten und
kreative Möglichkeiten eröffnen. Die vereinfachten Modellvorstellungen von
Weggehen und Ankommen bedürfen also einer genaueren Untersuchung für unser
wahres prozesshaftes Leben. Wir verändern uns laufend und sind weder genau die selben noch total
andere..
In
der heutigen Zeit ist es durchaus üblich geworden, Partnerschaften und Ehen
„einfach“ zu verlassen und zu beenden. Häufig besteht dann allerdings die
Illusion, dass man aus bisherigen Problemen einfach fortgehen kann und in einer
neuen wunderbaren Partnerschaft ankommt. Wenn jedoch keine menschlichen
Entwicklungsprozesse, Selbsterkenntnisse und die Überwindung bisheriger
Hemmnisse stattgefunden haben, ist dies in Wirklichkeit gerade kein psychisch geistiges Fortgehen und kein
Ankommen bei etwas fundamental Neuem möglich. Der Kreislaufprozess von
Illusionen, Ernüchterung, Frustration und Psycho-Kampf wiederholt sich einfach
mit neuen „Objekten“.
Weitere
Perspektiven der acht Negationen
Es
gibt meines Erachtens eine weitere wichtige Perspektive der obigen genannten
Negationen der acht zentralen Begriffe
und der Bereiche des Buddhismus: Durch die Negation werden naive oder erstarrte
Vorstellungen, Meinungen und Doktrinen dieser Begriffe im Grundsatz erschüttert
und aufgebrochen, sodass ein lebendiger Reflexions-Prozess in Gang kommen kann.
Wichtig ist auch die innere Dialektik unserer Begriffe: es bestehen semantische
Verbindungen der positiven Bedeutung und deren Negation. Beides zusammen ergibt
eine undogmatische umfassendere Semantik, die sicher von Nagarjuna angestrebt
wird.
Dadurch
werden neue Sichtweisen und ein neues umfassenderes eigenes Verständnis der
buddhistischen Lehre und Praxis durch eigenes Erleben und Erfahren ermöglicht.
Es handelt sich um einen dialektischen
Prozess, der über These und Antithese in Gang kommt und sich dann als
geistiger lebender Prozess fortsetzt. Vielleicht werden dabei Extreme
gestreift, aber durch die jeweilige Antithese sind sie nicht festgeschrieben
und fixiert sondern nur aufgehoben.
Eine solche Fixierung wäre genau das Falsche beim Mittleren Weg, der von
Nâgârjuna im MMK und bei Dogen gründlich untersucht wird. Es liegt nahe an die
dialektische Philosophie Hegels anzuknüpfen, der einen solchen fortlaufenden
Dreierschritt entwickelt hat, wie sich aus der These und Antithese die Synthese
entwickelt, die wiederum Ausgangspunkt als neue These für den weiteren Vorgang
ist.
Dabei
wird die vorlaufende These nicht ausgelöscht sondern „aufgehoben“, steht als in
gewandelter Form weiterhin für den Klärungsprozess zur Verfügung. Im Einklang
mit Bertram[10] ist das letzte Kapitel von
Hegels „Philosophie des Geistes“ „das absolute
Wissen“ die Beschreibung des fortlaufenden Wissensprozesses, der kein Ende
hat und keine endgültigen Ergebnisse liefert. Damit wären durch diesen Prozess
ideologische Verhärtungen oder dogmatische Verengungen des Geistes und Wissens
überwunden. Das Wissen ist also nicht ein ewiges unveränderliches Ergebnis-Wissen oder starres Resultat,
sondern eine Methode und ein Prozess, wie
man Wissen fortlaufend weiterentwickelt. Ich halte es für sehr wahrscheinlich,
dass Nâgârjuna ähnliche methodische Überlegungen an den Anfang seiner
Untersuchungen des Mittleren Weges stellt.
Durch
die Negationen werden verengte Dogmen der Begriffe aufgebrochen, sodass sich
eine neue Beweglichkeit entwickeln kann, die wiederum dem ursprünglichen
lebendigen Weg des Gautama Buddha das Tor öffnen. Wie der bekannte Interpret
des MMK, Kalupahana betont, hatten sich verschiedene wirklichkeitsfremde
Lehrmeinungen entwickelt, die zum einen Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit
postulierten (Sarvastivadins) und zum
andern den abrupten Wechsel von Ereignissen von Nichts und Realität (Sautrantikas) behaupteten, ohne selbstähnliche Veränderungen und
prozesshafte Interaktionen sinnvoll erklären zu können. Beide extremen
Lehrmeinungen können einer solchen dialektischen Negation nicht standhalten:
Die Dauerhaftigkeit hat keine Fortentwicklung und Erweiterung des Körpers und
Geistes und der abrupte Wechsel kennt keine Verbindung von der These über die
Antithese zur Synthese usw..
Zweiter
Teil der Präambel
Nâgârjuna
umreißt im zweiten Teil der Präambel durch die Formulierung pratitya samutpada, wechsel-wirkendes
gemeinsames Entstehen, seinen zentralen Ansatz für das MMK und beruft sich
dabei u. a. auf das authentische im frühen Buddhismus wiedergegebene sutta.
Ich
halte Nâgârjunas Ansatz, die authentischen Lehren Buddhas durch Antithesen und
Negationen in Verbindung mit Fehlentwicklungen bestimmter Lehrmeinungen und
Sekten für fruchtbar, wenn auch nicht immer leicht zu verstehen. Dies gilt
nicht nur philosophisch sondern auch ganz praktisch für unser Leben. Mein
Lehrer Nishijima Roshi hat die maßgeblichen Aussagen des Zen – Buddhismus von
Meister Dôgen mit Nâgârjunas Versen verbunden und damit als erster einen großen
Schritt zur Integration dieser beider Bereiche getan. Ich folge diesem Ansatz und
habe mich entschlossen, ausgewählte Themen der Texte Dôgens an die
entsprechenden Kapitel Nâgârjunas anzufügen.
Ich
hoffe, dass damit buddhistische Kernaussagen eine spannende Erweiterung und
neue Perspektiven erhalten. Teilweise geht es dabei um relativ klar abgegrenzte
Themen, wie zum Beispiel beim Kapitel der Zeit bei Nâgârjuna und die Sein –
Zeit bei Dôgen. Es ist aus meiner Sicht spannend und weiterführend, dass etwa
eine Zeitspanne von tausend Jahren zwischen den Arbeiten Nâgârjunas und Dôgens
liegt und zwei große menschliche Kulturen den Buddhismus prägten. Da ich außerdem
einen direkten Bezug zu den authentischen suttas Buddhas gesucht habe, wird
damit eine Entwicklungszeit von circa 2.500 Jahren Buddhismus direkt in unseren
Blick gerückt. Nagarjuna und Dogen markieren zweifellos Höhepunkte der
buddhistischen Weisheit und Praxis!
Damit
gewinnen die acht obigen Kernpunkte der Fehlentwicklungen Nâgârjunas nicht nur
ein scharfes Profil innerhalb der Präambel mit der Verbindung des
wechsel-wirkenden gemeinsamen Entstehens, sondern auch zu Dôgens kaum zu
überschätzende Texte aus der Blütezeit des chinesischen Chan- und japanischen
Zen – Buddhismus.
Zur Ruhe Kommen der wegführenden Fehlentwicklungen
Aber
wie können wir nun die obigen Fehlentwicklungen beenden, wie kommen sie zur
Ruhe und wo finden wir den Mittleren Weg, der zerstörerische Extreme vermeidet
und unsere Weiter- und Fortentwicklung fördert? Wie können wir Gier, Hass und
die Verblendung falscher Sichtweisen überwinden? Wie erlangen wir Freiheit,
Emanzipation und Erleuchtung? Dazu brauchen wir zweifellos Klarheit im Körper
und Geist und geübte Kräfte zum rechten Handeln.
Der
grundsätzlich richtige Weg wird im zweiten fulminanten Teil der Präambel
vorgestellt und später im MMK genauer interpretiert. Nagarjuna sagt völlig klar
und eindeutig, dass er Gautama Buddha als den "besten der
Sprechenden" und Lehrenden schätzt und hoch verehrt, und unterstreicht
damit sein Vertrauen in die authentische Lehre.
Es
ist richtig, dass wir für die nicht leicht zu verstehenden Verse Nagarjunas
selbst Achtsamkeit, Konzentration und wachsende Klarheit benötigen. Aber wenn
"wir dran bleiben", wird der alte Text ganz neu zu uns sprechen, ja
der Text wird in einen lebendigen Dialog mit uns eintreten. Was dabei herauskommt,
können und sollten wir vorher gar nicht unbedingt genau festlegen.
Von
besonder Bedeutung ist zweifellos die Klarheit darüber, was Nagarjuna mit wechsel-wirkendem „gemeinsamen Entstehen“, pratitya samutpāda,
sagen will und wie er es von dem obigen falsifizierten , nicht gemeinsamen Entstehen, anutpāda,
abgrenzt.
Nagarjuna
gilt als Hauptvertreter der damals weitgehend neuen Richtung der Leerheit des Mittleren Wege des
Madhyamaka und Mahayana. Im MMK können wir daher die genaueste Analyse des oft
mystifizierten oder missverstandenen Begriffs der Leerheit finden. Oder anders
gesagt: Wer die Leerheit nicht aus dem MMK sondern aus anderen nicht zuverlässigen Texten ableitet,
wird kaum Klarheit zur Bedeutung der Leerheit gewinnen können. Wesentlich ist
der Zusammenhang von wechsel-wirkendem gemeinsamen Entstehen und dem Begriff
der Leerheit.
Und
weiter: Was versteht Nagarjuna unter
„wegführenden Fehlentwicklungen“, die die wahre Lehre verlassen, in die
Irre gehen und den Befreiungsweg verstellen. Dies meint, dass wir uns in einem
Gestrüpp unklarer Begriffe, erstarrter Vorstellungen und falscher Handlungen
verlieren!
Nagarjuna
geht es m. E. um das klare Verständnis von Dingen, der Materie und anderen
Phänomenen der belebten Welt und Natur: Was ist die Wahrheit und was ist ein gutes
Leben in unserer Welt? Die Festkörper-Physik lehrt uns bereits heute die
Wechselwirkung der Materie. Sie ist in der Tat ein universelles Prinzip, sei es in lebenden oder nicht lebenden
Systemen.
Gibt
es nun unabhängige, absolute Wahrheiten und entsprechende verborgene Substanzen
und Entitäten, die uns Sicherheit und Halt in unserem Leben geben können, nach
denen sich so viele Menschen sehnen? Populistische, dogmatische oder gar extremistische
Antworten würden uns dabei noch tiefer in Unsicherheiten und wegführenden Fehlentwicklungen stürzen;
es ist also Vorsicht geboten.
Ohne
in eine zu komplexe Diskussion einzusteigen, soll nun kurz eine erste Deutung
gegeben werde, die sich auch auf den großen Buddhologen Kalupahana[11]
stützt.
Die
wichtigen Themen des MMK werden der Präambel, wie in einer Ouvertüre, kurz vorgestellt, um später vertieft und umfangreich
ausgeführt zu werden. Wir dürfen dabei nicht vergessen: MMK ist ein
Lehr-Gedicht, oder wie Nishijima Roshi sagte, ein Gesang.
Ergebnis
Im
ersten Teil werden acht Negationen von zentralen buddhistischen Begriffen
aufgeführt. M. E. ist es sinnvoll sie semantisch auch auf ihre jeweiligen
positiven Begriffe zu beziehen, um den vollen Umfang der Bedeutungen zu
erkennen. Es handelt sich nicht um absolute unabhängige Negationen, sondern um
ihren erweiterten Bedeutungsumfang, der philosophisch durch die Verbindung von
positiver und negativer Formulierung erreicht wird. Die Unterscheidung und Negation
ist nicht jeweils isoliert und absolut zu verstehen, sondern maßgeblich ist
gerade ihre Verbindung.
Das
kann philosophisch als „Ganzheit der
Differenz“ verstanden werden. Dabei ist die Differenz gerade nicht absolut,
sondern als relative Unterscheidung bei gleichzeitiger Verbindung zu verstehen.
Der positive und negative Begriff haben eine inhärente Differenz, dabei eine
inhärente Beziehung zueinander (vgl. „Arbeit des Negativen“ bei Hegel) [12]Dieses
Verständnis hat große Bedeutung für den späteren Buddhismus des Madyamika und
Mahayana, wie z. B. für das Herz-Sutra. Falsch verstandene Deutungen haben
sicher dazu beigetragen, dass Nagarjuna immer wieder als Nihilist
missverstanden wurde.
Nach
meinem Verständnis gibt es in der Präambel zwei Schlüsselbegriffe, die
fundamentale Bedeutung haben und auch in das große Werk des MMK einführen:
„Wechsel-wirkendes gemeinsames Entstehen“ als konstruktive
positive Aussage der buddhistischen Befreiung und des Neuanfanges.
„Nicht-Entstehen“ als Verharren und Festhalten an alten,
verhärtenden und prägenden Leid-bringenden Mustern und Verhalten, sodass weder
Befreiung noch Neuanfang zur Erleuchtung gelingen können. Das „Nicht-Entstehen“ sollte m. E. begrifflich
inhärent dialektisch verstanden werden.[13]
Es ist ohne Beziehung zum positiven„Verstehen“
in der Wechselwirkung unbrauchbar.
Was
soll damit gesagt werden? Beide Male verwendet Nâgârjuna den Sanskrit-Begriff utpada, der Entstehen bedeutet, und einmal positiv in der Verbindung mit „sam“, das zusammen, gemeinsam und kombiniert bedeutet, also gemeinsames Entstehen, und einmal in der
Form der Negation, gewissermaßen die
fehlende Entwicklung, das Nicht-Entstehen. Nâgârjuna verneint eine verengt
dinghafte und erstarrte Vorstellung und Ideologie des isolierten Nicht-Entstehens von Phänomenen ohne wirkliche
Veränderungen und Prozess-Charakter.
Lebendiges
Entstehen gelingt in Wechselwirkung und nicht isoliert allein aus sich selbst.
Er setzt dem das richtige prozesshafte
gemeinsame Entstehen in
Wechsel-Wirkung entgegen. Die Wechsel-Wirkung kann nur in zeitlichen,
vernetzten Prozessen ablaufen und verstanden werden. Dies ist ein unverzichtbares
Verständnis der dynamischen Wirklichkeit in der Welt, ganz gleich wie genau man
sie im Detail oder als Ganzes analysieren und verstehen kann.
Denn
die Wirklichkeit von vernetzen Systemen, z. B. der Ökologie und des neuronalen
Netzes unseres Gehirns, kann nach heutiger gesicherter Kenntnis nur sinnvoll
durch rückgekoppelte Prozesse in Verbindung mit entsprechenden Strukturen
beschrieben werden. Wechselwirkung ist daher für alles Lebendige der Welt
typisch und charakteristisch; eine Beschreibung durch eindimensionales unidirektionales
„abhängiges Entstehen“, wie bisher meist im Buddhismus üblich, ist verengt und
reicht nicht aus, vielleicht hat ein solches Verständnis manche Irrtümer zur
Folge gehabt. M. E. wird mit diesem Paradigmenwechsel
die Verständlichkeit, Klarheit und Wirkkraft des MMK nachhaltig verbessert.
Nagarjuna
wählt dabei exemplarisch markante Begriffspaare in der Präambel, die sicher in
seiner Zeit im Buddhismus häufig verwendet, aber wohl auch sektiererisch falsch verstanden wurden. Für das
unzureichende Verständnis verwendet er die Formen der Negation und Destruktion
und kennzeichnet damit die Sichtweise ohne Veränderungen, Entwicklungen und
Emanzipation. Wir sollten ein isoliertes und erstarrtes Verständnis heute im
Westen besonders gründlich analysieren, wo der Individualismus aus den Fugen
geraten ist und wo Fakenews, ein hohler Materialismus und übersteigerter Egoismus
um sich greifen. Das kann helfen, dass kein falsches Verständnis des Buddhismus
aufkommt.
Ein
ähnliches Begriffspaar verwendet Nâgârjuna für „nicht zur Ruhe kommen“ und „angenehmes
Aufhören der wegführender
Fehlentwicklung“. Denn unser
Gleichgewicht zu finden, zur Ruhe zu kommen und den Mittleren Weg zu gehen sind
zweifellos zentrale Eckpunkte des
Buddhismus. Sie können aber nur verstanden werden, wenn prozesshafte Wechsel-Wirkung, Werden und Emanzipation einbezogen
werden. Das heißt, dass wir in unserem Leben nicht zur Ruhe kommen, wenn wir von isolierten, dinghaften Phänomenen und
ewigen unsichtbaren Substanzen ausgehen, die sogar durch Magie beeinflusst
werden können. Durch falsche Sicherheiten und substanzhafte Weltanschauungen
entstehen gerade Unruhe und Hektik. Dann würden wir die erkennbaren wechsel-wirkenden
Veränderungs-Prozesse vernachlässigen oder verdrängen. Dies ist aber ein
typisches Merkmal statischer und erstarrter Doktrinen, Weltanschauungen und
Ideologien.
[1]
Vgl. Kant zur Definition von Vernunft und Verstand. Ähnlich bei Georg W.
Bertram Hegels „Phänomenologie des Geistes“, S. 322 f.
[2]
Hegel in Georg W. Bertram Bertram
[3]
Kalupahana, Casuality
[4]
Peter Gäng, Achtsamkeit
[5]
Kalupahana, MMK
[6]
Manfred Spitzer
[7]
Peter Gäng, Achtsamkeit
[8]
Manfed Spitzer
[9]
Joana Macy
[10]
Hegel zitiert in Georg W. Bertram
[11]
Kalupahana, MMK
[12]
Hegel Phänomenologie des Geistes, „Arbeit des Negativen“, zitiert in Georg W.
Bertram, S. 316 f.
[13]
Hegel, zitiert in Georg W. Bertram