Zen-Meister Dôgen[i]
(von G. W. Nishijima, Übersetzung Yudo J. Seggelke)
(von G. W. Nishijima, Übersetzung Yudo J. Seggelke)
Meister Dôgen wurde im Jahr 1212 buddhistischer Mönch und trat in das Kloster Enryaku-ji in Kyoto ein, wo er etwa drei Jahre lang lebte. Ihm wurde jedoch mit der Zeit klar, dass die buddhistische Lehre in Enryaku-ji damals zu sehr auf intellektuelle Überlegungen konzentriert war, weshalb er zu Meister Eisai ins Kloster Kennin-ji ging.
Meister Dôgen im japanischen Kloster Kennin-ji
Weil dieses Kloster zur Übertragungslinie des Rinzai gehört, können wir annehmen, dass Meister Dôgen von seinem Meister ein Kôan erhielt, dessen Bedeutung er während der Zazen-Praxis immer wieder durchdachte, um auf diese Weise zur Erleuchtung zu gelangen. Dieses Vorgehen unterscheidet sich jedoch von der Praxis des wahren Zazen, die er später sehr genau kennenlernte und herausarbeitete. Meister Dôgen besaß einen scharfen Verstand und ein genaues Beobachtungsvermögen, sodass es bei ihm zu keinen Täuschungen und Illusionen darüber kam, ob er die sogenannte Erleuchtung wirklich erlangt hatte oder nicht. Daher erkannte er zu seinem Bedauern ganz klar, dass er trotz größter Anstrengung nicht so etwas Ähnliches wie die Erleuchtung erfahren hatte. Wir können sicher vermuten, dass ihn diese Erkenntnis stark beunruhigte.
Wahrscheinlich hatte Meister Dôgen daraufhin erhebliche Zweifel, ob die Form des Zazen, die damals in Japan praktiziert wurde, überhaupt geeignet für die Erleuchtung sei. Infolgedessen ist bei ihm wohl der Wunsch aufgetaucht, nach China zu gehen, um dort die wahre buddhistische Übungspraxis des Zazen zu erlernen. Butsuju Myozen, der Nachfolger von Eisai als Meister des Klosters Kennin-ji, hatte offensichtlich genau dieselben Überlegungen wie Meister Dôgen. Butsuju Myozen hegte ebenfalls die große Hoffnung, durch eine Reise nach China das Wahre des chinesischen Buddhismus und vor allem des Zazen direkt zu erfahren. Daher entschieden sich die beiden Meister Myozen und Dôgen, gemeinsam nach China zu reisen, um dort die Erleuchtung zu erlangen, die in Japan offensichtlich nicht möglich war.
Meister Myozen und Meister Dôgen in China
Leider erkrankte Meister Myozen schon nach etwa zwei Jahren des gemeinsamen Aufenthaltes in China schwer und starb im Kloster Tendozan Keitoku-ji am 27. März 1225.
Meister Dôgen setzte seine Reise zu verschiedenen chinesischen buddhistischen Tempeln danach allein fort. Er hoffte, einen wahren buddhistischen Meister zu finden, um das zu erlangen, was er so sehr anstrebte. Am 1. Mai 1225 begegnete Meister Dôgen dann Meister Tendô Nyojô, der inzwischen der Meister des Klosters Tendozan Keitoku-ji geworden war. Er erkannte in ihm schlagartig seinen wahren Meister und studierte und praktizierte Buddhismus unter Tendô Nyojôs Leitung bis zu seiner Rückkehr nach Japan im Jahr 1227.
Die Tatsache, dass Meister Dôgen mit Meister Tendô Nyojô zusammentraf, ist von größtem Wert für den Buddhismus. Bevor Dôgen ihm begegnet war, praktizierte er Zazen mit der Vorstellung, dass man auf ein Ziel gerichtet und mit großer Anstrengung die Erleuchtung erringen müsste. Dies unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von der wahren Praxis des Zazen. Dass Meister Dôgen überhaupt nach China ging, ist seiner großen Aufrichtigkeit und Sorgfalt sich selbst gegenüber zu verdanken, und dass er bis dahin die Erleuchtung tatsächlich nicht erlangen konnte.
Die buddhistischen Lehren Tendô Nyojôs unterschieden sich vollständig von dem, was Dôgen bis dahin kennengelernt, aber auch, was er in China erwartet hatte. Wie er im Kapitel „Die reine buddhistische Praxis bewahren und weitergeben“ im Shôbôgenzô[ii] beschreibt, sagte Meister Tendô Nyojô mit großer Bestimmtheit:
„Zazen zu praktizieren bedeutet nur, Körper und Geist fallen zu lassen. Es ist nicht notwendig, dass wir Räucherwerk anzünden, Buddhas Namen rezitieren, unsere Sünden bekennen oder überhaupt Sûtras lesen. Aber wenn wir nur sitzen, ist alles schon von Anfang an erreicht worden.“
Diese Worte bedeuten, dass die Zazen-Praxis das vegetative Nervensystem ins Gleichgewicht bringt und dass wir das einengende Bewusstsein von Körper und Geist verlieren. Wenn wir nur Zazen praktizieren, verwirklicht sich schon von Anfang an einfach und direkt die Freiheit vom eingeengten Bewusstsein des Körpers und Geistes. Diese Erkenntnis ist einer der wichtigsten Kernpunkte der buddhistischen Lehre überhaupt. Das wahre Zazen dient also niemals nur als Werkzeug und Methode, um das große Ziel der Erleuchtung zu erlangen. Die Zazen-Praxis ist gerade nicht nur ein Instrument oder Hilfsmittel, das sich von dem angestrebten Ergebnis der Praxis, nämlich der Erleuchtung, trennen lässt, sondern Zazen ist die erste Erleuchtung selbst.
Die willensmäßige Konzentration auf das Ziel der Erleuchtung ist also völlig sinnlos und zerstört gerade die wahre Zazen-Praxis. Zazen ist nur das Handeln des Sitzens im gegenwärtigen Augenblick selbst. Wir müssen daher in aller Klarheit sagen, dass beim Zazen das Ziel, die praktische Methode und das eigentliche Handeln beim Sitzen vollkommen zu einer Ganzheit verschmolzen und damit identisch sind. Es ist sehr wichtig, dass wir Zazen einfach und ohne Verspannung als die erste Erleuchtung praktizieren, und wir müssen uns überhaupt nicht darum sorgen, wann die zweite Erleuchtung kommen wird.
Die erste Erleuchtung ist, Zazen im gegenwärtigen Augenblick zu praktizieren, indem wir Körper und Geist fallen lassen. Die zweite Erleuchtung ist das vollständige Verständnis der buddhistischen Lehre auf der Grundlage des ehrlichen täglichen Lebens als Mensch, der den Buddhismus praktiziert. Dabei ist der wichtigste Kern die Zazen-Praxis selbst, wie sie hier beschrieben wird und die wir in dieser Klarheit Meister Dôgen verdanken.
Meister Dôgens Heimkehr
Dôgen kehrte im Jahr 1227, mit 27 Jahren, nach Japan zurück. Nach seiner Rückkehr fragte ihn jemand: „Was hast du aus China mitgebracht?“ Er antwortete darauf: „Nichts“ und fügte dann hinzu: „Wenn ich dazu irgendetwas sagen muss, mag es der bewegliche und sanfte Geist sein (den ich mitgebracht habe).“ Wir können seine Worte heute so verstehen, dass sich unser Körper und Geist, so wie sie sind, beim Zazen im Zustand des Gleichgewichts befinden und es uns so erscheint, als ob wir sie fallen gelassen haben.
Schriftliche Fassung der allgemeinen Richtlinien zum Zazen (Fukan zazengi)
Meister Dôgen hielt sich nach seiner Rückkehr aus China zunächst für eine gewisse Zeit in Kyushu auf und trat dann wieder in das Kloster Kennin-ji in Kyoto ein. Er verspürte ein sehr starkes Bestreben und sah sich auch in der Pflicht, den wahren Buddhismus in Japan zu lehren und zu verbreiten, und zwar genau so, wie er ihn unter Meister Tendô Nyojô in China studiert und erlernt hatte. Er schreibt im ersten Kapitel des Shôbôgenzô:, „Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit (Bendōwa)“, dass diese Aufgabe wie eine schwere Last auf seinen Schultern lag, die er zu tragen hatte.[iii] Die Schrift „Allgemeine Richtlinien zum Zazen“ (Fukan zazengi) stellt den Beginn der Verbreitung der wahren Lehre des Buddhismus und Zazen in Japan dar.
Es liegen zwei verschiedene Fassungen des Fukan zazengi vor: Eine trägt die Bezeichnung Shinpitsu-Bon und die andere Rufu-Bon. Die erste Bezeichnung besagt, dass diese Ausgabe in einer besonderen chinesischen, kalligrafischen Schrift gesetzt ist, die damals neu war. Die zweite Bezeichnung bedeutet, dass es sich um eine in der Öffentlichkeit weit verbreitete, also populäre Fassung handelt. Shinpitsu-Bon wurde wegen seiner großen Bedeutung zum „Nationalen Schatz Japans“ erklärt, gehört auch zu den wertvollen Schätzen des Tempels Eihei-ji und wird dort bis heute aufbewahrt.
Nachdem ich diese beiden Fassungen immer wieder gelesen und studiert hatte, kam ich zu der Überzeugung, dass Rufu-Bon von Meister Dôgen selbst häufig überarbeitet und verbessert worden war. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass Rufu-Bon eine vollkommene und gründlich bearbeitete Fassung darstellt und am besten als Standardausgabe des Fukan zazengi geeignet ist.
Übersetzung von Dôgens authentischem Text des Fukan zazengi
Im Folgenden wird die neue, wörtliche Übersetzung in der Fassung des Rufu-Bon wiedergegeben[iv]:
„Allgemein gesagt ist die Wahrheit, wenn wir sie untersuchen, ursprünglich vorhanden und durchdringt das ganze Universum! Das buddhistische Fahrzeug der Wirklichkeit existiert ganz natürlich. Warum ist es daher für uns notwendig, dass wir manchmal auf der Praxis aufbauen und manchmal vertrauensvoll auf die Erfahrung setzen?
Der ganze Körper existiert jenseits von Staub und Schmutz. Außerdem sind die Methoden, die zum Erreichen der grundlegenden Prinzipien des Buddhismus nützlich sind, überall vorhanden. Warum ist es für uns daher notwendig, von der enormen Anstrengung, sie zu erreichen, erschöpft zu werden.[v]
Darüber hinaus haben wir buddhistischen Mönche schon vollständig den weltlichen Abfall und Staub abgeschüttelt. Warum ist es dann für irgendjemanden überhaupt erforderlich, an die Notwendigkeit der Praxis-Methoden zu glauben, (die dazu dienen sollen, Abfall und Staub) wegzubürsten und abzuwischen?
Grundsätzlich können wir menschlichen Wesen unseren angemessenen Ort im Dharma nicht verlassen. Warum ist es dann für uns notwendig, dass wir einen Teil unserer Beine und Füße nur ein wenig für diesen Zweck benutzen?
Wenn jedoch tatsächlich nur irgendeine kleinste Abweichung (von der Wahrheit) existiert, dann wird diese Lücke der Abweichung (zum Beispiel durch Gedanken) sehr viel breiter und übertrifft sogar den ungeheuren Abstand zwischen Himmel und Erde. Wenn sich daher der kleinste Unterschied irgendeiner Art (zwischen Praxis und Ergebnis beim Zazen) ereignet, müssten wir wegen der Abweichung unsere geistige und körperliche Ausgeglichenheit vollständig verlieren.
Obgleich wir stolz auf unser klares Verständnis und reich mit klugen Entscheidungen ausgestattet sind, obgleich wir noch zusätzliches ausgezeichnetes Denken und die Wahrheit erlangen, obgleich wir den Geist klären, den Willen ertüchtigen und den Himmel großartig durchstoßen und den Kopf in den Bereich des denkenden Handelns bringen, misslingt es uns vollkommen, unseren Körper tatsächlich in den Bereich des wahren Handelns selbst zu bringen.
Darüber hinaus können wir die historisch bleibenden und eindeutigen Tatsachen des Genies Gauthama Buddha ansehen, der am Ort von Jetavana
Anathapindikarama selbst sechs Jahre lang authentisch (im Zazen) saß. Der historische Meister (Bodhidharma) im Shaolin-Tempel, der das zentrale Symbol des Buddhismus nach China brachte und neun Jahre vor der Wand saß, hat auch heute noch seine authentische Ausstrahlung. Andere große alte Meister haben uns weitere hervorragende Beispiele gegeben. Wie kann es angehen, dass wir, die heutigen Menschen, die Zeit verstreichen lassen, ohne überhaupt Zazen zu praktizieren?
Daher sollten wir die Anstrengungen beenden, verbale Begriffe zu suchen und intellektuell zu verstehen. Es ist für uns notwendig, dass wir lernen, innezuhalten und uns zurückzunehmen, das Licht nach innen zu richten und uns selbst gründlich zu analysieren und zu hinterfragen. (Dann wird das fixierte Bewusstsein von) Körper und Geist auf natürliche Weise in wenigen Minuten verschwinden, und unser ursprüngliches Gesicht und unsere ursprünglichen Augen werden sich sofort natürlich manifestieren. Wenn wir etwas Unfassbares (die große Wahrheit jenseits des Denkens) sofort erlangen wollen, sollten wir sofort etwas Unfassbares praktizieren, das ist Zazen!
Allgemein gesagt ist es vorzuziehen, einen ruhigen Raum zu benutzen, wenn wir Zazen authentisch praktizieren wollen. Wir sollten nur in Maßen essen und trinken. Die vielfältigen Umstände (unseres Lebens) sollten wir wegwerfen und alle Arten von Aufgaben vollständig beenden. Denkt nicht an Gut oder Schlecht! Sorgt euch nicht über Richtig und Falsch! Stoppt die Bewegungen des Geistes, des Willens und des Bewusstseins! Stoppt Überlegungen, Gedanken und Reflexionen! Erstrebt niemals, niemals das Ziel, ein Buddha zu werden! Ein solcher Zustand der Anstrengung (des Zazen) kann niemals auf das gewöhnliche Sitzen oder Stehen beschränkt werden.
Auf dem Boden, wo wir im Zazen sitzen, breiten wir normalerweise eine dicke Matte aus und legen ein dickes rundes Kissen zum Sitzen darauf. Entweder praktizieren wir die Haltung des vollen Lotossitzes oder des halben Lotossitzes. Beim vollen Lotossitz legen wir zuerst den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel, und dann legen wir den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel – oder umgekehrt. Beim halben Lotossitz drücken wir mit dem linken Fuß auf den rechten Oberschenkel – oder umgekehrt. Wir sollten unsere Kleidung über den Beinen und Füßen ausbreiten und darauf achten, dass sie geordnet ist. Dann legen wir beim ganzen Lotossitz die rechte Hand auf den linken Fuß und die linke Hand in die rechte Hand, sodass sich die Spitzen der Daumen gegenseitig berühren. Entsprechendes gilt für den halben Lotossitz.
Dann nehmt die authentische Sitzhaltung mit gestreckter, aufrechter Wirbelsäule ein und bleibt in dieser Haltung. Neigt die Wirbelsäule nicht nach links oder nach rechts. Sitzt nicht gekrümmt nach vorn und lehnt euch nicht nach hinten. Die Linien der Ohren und der Schultern müssen in der Waagerechten parallel zueinander verlaufen. Die Nase und der Bauchnabel sollten in einer senkrechten Linie gehalten werden. Legt die Zunge an den oberen Gaumen und haltet die Lippen und Zähne geschlossen. Die Augen sollten natürlich offen gehalten werden.
Atmet sanft durch die Nase. Nachdem ihr die Sitzhaltung bereits (noch einmal) reguliert habt, atmet einmal tief ein und lasst den Oberkörper nach rechts und links pendeln. Dann sitzt ohne Bewegung im Berg-stillen Zustand und denkt den konkreten Zustand des Nicht-Denkens. Wie ist es für uns möglich, den konkreten Zustand des Nicht-Denkens zu denken? Er unterscheidet sich fundamental vom (üblichen) Denken. Dies ist kurz gefasst genau die Technik des Zazen.
Was Zazen genannt wird, ist ganz verschieden vom Zazen der Konzentration und des (angestengten) Lernens, denn es ist genau das Tor des Friedens und der (natürlichen) Freude zum Universum und zur Dharma- Wahrheit. Es ist die (Einheit von) Praxis-und-Erfahrung, um die Wahrheit zu klären. Das System des Universums ist dann bereits verwirklicht, denn die Netze und Käfige (der Verstrickung) sind bei uns überhaupt noch niemals angekommen.
Wenn wir den Zustand erreicht haben, der beim Zazen angestrebt wird, sind wir vermutlich in derselben Lage wie ein Drache, der das Wasser bekommen hat, oder ein Tiger, der einen Berg als Schutz von hinten hat. Wir sollten genau erkennen, dass die Dharma-Wahrheit sich sofort natürlich manifestiert und sowohl die Dunkelheit als auch die Ungenauigkeit vorher zerstört worden sind.
Wenn wir uns vom Sitzen erheben, bewegen wir zuerst allmählich und langsam den Körper, und dann stehen wir stabil auf. Wir sollten niemals hastig oder gewaltsam sein.
Indem wir die alten Zeiten (des Buddhismus) bedenken (wird uns klar), dass alles auf der Kraft beruht, die durch die Praxis geübt worden ist: das Überschreiten des gewöhnlichen Menschverstandes und das Übersteigen des Heiligen. (Wie berichtet wird, kommt aus dieser Kraft) das friedliche Sterben während des Sitzens, oder dass ein alter Meister sanft im Stehen aus dem Leben scheidet.
Außerdem liegt der wesentliche Kernpunkt, um den sich alles dreht, weit jenseits von Entscheidungen durch gedankliches Überlegen oder irgendwelche Bewertungen. Er ist die klar erkannte Erfahrung des Fingerzeigs von Meister Gutei, des Niederholens des Flaggenmastes durch Meister Ananda, der Benutzung einer Nadel durch Meister Nâgârjuna, um (seinen Schüler) Kanadewa zu lehren, des Schlagens eines Blockes, der von Meister Manjusri benutzt wurde, oder der bekannten Verwendung eines Wedels, einer Faust, eines Stabes oder eines Schreis.
Wie wäre es für irgendeine mystische Fähigkeit, Praxis oder Erfahrung möglich, die Fähigkeit zu haben, (dies) mit dem Verstand zu erkennen? (Was darüber hinausgeht) mag die wahre reine Form jenseits von Stimmen und Farben sein. Nur so ist es (für die alten Meister) möglich, der Maßstab für das Denken und die Wahrnehmung zu sein.
Wir sollten daher niemals nach Fähigkeiten auswählen (und urteilen), wer klüger oder dümmer ist. Wir sollten niemals einen klugen Menschen einem einfältigen Menschen gegenüber vorziehen und über höhere Weisheit oder niedrigere Dummheit diskutieren.
Wenn wir ehrlich die Probleme bedenken, muss es nur das Streben nach der Wahrheit sein. Praxis-und-Erfahrung sollen sich niemals gegenseitig beschmutzen, und das angestrebte Handeln sollte im Gleichgewicht und dauerhaft sein.
Ganz grundsätzlich bewahren diese (japanische) Welt und ein anderes Land genauso wie das westliche Land Indien und das östlich Land China die charakteristischen Merkmale des Buddhismus und umfassen nur das authentische Verhalten.
Wir praktizieren allein sorgfältig und genau Zazen und sind ganz auf diesen bewegungslosen Zustand fokussiert. Obgleich unsere Lebenssituationen so unterschiedlich sind und so viele Unterschiede aufweisen, praktizieren wir allein sorgfältig und genau Zazen, um nach der Wahrheit zu streben. Wie wäre es möglich, dass wir unseren eigenen Zazen-Sitzplatz wegwerfen, um hier und dort in fremden staubigen Ländern herumzuwandern, ohne jede Orientierung? Auch wenn wir nur einen einzigen Fehler bei unserem Schritt machen, müssen wir unseren Fehler genau im gegenwärtigen Augenblick zugeben.
Wir haben zu unserem großen Glück schon einen hervorragenden, wertvollen menschlichen Körper. Wir sollten niemals die wertvolle Zeit verstreichen lassen, ohne etwas Nützliches zu tun.
Wir menschlichen Wesen haben schon die außerordentlich wichtige Fähigkeit für die buddhistische Moral. Wie wäre es daher für irgendjemanden möglich, die überaus wertvolle Zeit sinnlos zu verschwenden und für eine seichte, flüchtige Freude zu opfern? Außerdem ist die körperliche Substanz so vergänglich wie ein Tautropfen auf dem Blatt des Grases. Das fragile Leben ist dem Aufleuchten eines Lichtstrahls sehr ähnlich. Beide verschwinden ganz plötzlich und vollständig; sie verlöschen selbst sehr schnell.
Ich möchte daher die edlen Menschen (und Freunde) bitten, den Buddhismus in der Praxis zu erlernen und sich nicht davor zu fürchten, dem Wirklichen Drachen tatsächlich zu begegnen, obgleich sie sich an die Nachahmungen vom Drachen gewöhnt haben. Praktiziert sorgfältig Zazen und vertraut der einfachen, direkten Anstrengung beim Streben nach der Wahrheit. Verehrt den Menschen, der das rein theoretische Lernen überschritten und vordergründige Absichten vergessen hat.
Wir werden vollkommen eins geworden sein mit der Höchsten Wahrheit vieler Buddhas, und wir empfangen authentisch den Zustand des Gleichgewichts (für das vegetative Nervensystem) des Samâdhi vieler großer Meister. Wenn ihr beständig dieses Etwas des Unfassbaren praktiziert, wird sich das Schatzhaus der Juwelen auf natürliche Weise öffnen, und es wird für euch leicht möglich sein, sie zu empfangen und zu verwenden – genau so, wie ihr es wollt.“
[i] Dieses Kapitel ist auch in dem Buch „Aus meinem Leben“ von G. W. Nishijima abgedruckt.
[ii] Kap. 30, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 29 ff.: „Die reine buddhistische Praxis bewahren und weitergeben (Gyoji)“
[iii] Vgl. in diesem Buch: Teil II/Kap. 1. „Die Zazen-Praxis und das Streben nach der Wahrheit“ und Kap. 1, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 26 ff.: „Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit (Bendōwa)“
[iv] Der folgende Text wurde von mir auf der Grundlage der im Internet-Blog von Nishijima Roshi veröffentlichten englischen Fassung übersetzt.
[v] Dôgen erinnert hier an die berühmte Begebenheit der Dharma-Übertragung auf Daikan Enô und den fundamentalen Optimismus Gautama Buddhas, dass wir von Natur aus ohne Verunreinigung sind. Warum sei es dann überhaupt erforderlich, dass wir ausdauernd Zazen praktizieren und die buddhistische Ethik im Alltag handelnd verwirklichen? Dôgen gibt im Folgenden dazu sehr prägnante Begründungen.